Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Krieg gegen die Armen"

Ausverkauf von Land, Wald, Wasser und Rohstoffen: In Indien werden ganze Landstriche an Konzerne verscherbelt, und das Militär macht Jagd auf Adivasis und Dalits. Gespräch mit G.N. Saibaba

G.N. Saibaba ist Assistenzprofessor für europäische Literatur an der prestigeträchtigen New Delhi University. Er zählt zu den Exponenten der demokratischen Opposition und spielt eine zentrale Rolle in der Koordination der verschiedenen Widerstandsbewegungen. Der an den Rollstuhl gefesselte Wissenschaftler repräsentiert die Revolutionäre Demokratische Front (RDF).



In der Regierungskampagne »India Shining« wurde der Bevölkerung Ihres Landes versprochen, die durch die Globalisierung forcierte Industrialisierung bringe auch für die Armen Wohlstand. Hat sich das bewahrheitet?

Die Politik der Globalisierung bedeutete in Indien zuerst die Bereicherung der herrschenden Oligarchie. Eine Handvoll Familien hält die Schalthebel der Macht besetzt. Dank dieser Stellung gelang es ihnen, insbesondere in den vergangenen 20 Jahren sehr, sehr reich zu werden. Heute gibt es in Indien zahlreiche Milliardäre. Auf der anderen Seite sind 80 Prozent der Bevölkerung gezwungen, von weniger als einem halben Dollar pro Tag zu leben. Eine tägliche warme Mahlzeit wird da zum Problem. Selbst nach den regierungseigenen Statistiken war das vor 20 Jahren noch nicht der Fall. Indien verfolgt die neoliberale Freihandelspolitik besonders aggressiv und hofft dabei auf die Vermarktung seiner ungehobenen natürlichen Reichtümer. Gleichzeitig ruft die wachsende Armut und Ungleichheit auch neue große Konflikte hervor.

Die vergangenen sechs Jahre waren indes von einer zweiten Welle an Reformen geprägt. In der ersten Phase war es vor allem um die Liberalisierung der Wirtschaft und die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen gegangen. Im Zentrum standen IT und Software. Aber es kam nur zu wenigen ausländischen Investitionen. Das hat sich geändert. Hunderte Absichtserklärungen mit multinationalen Konzernen wurden unterzeichnet, überwiegend im Bereich des Bergbaus. Vor allem in Zentral- und Ostindien sind reiche Vorkommen an Eisenerz, Steinkohle, Bauxit, Kalk und anderen Mineralien nachgewiesen, die der Westen gerne ausbeuten möchte.

Unglaublich große Landstriche werden so an Großkonzerne verscherbelt. Wir sind mit einem Ausverkauf von Land, Wald, Wasser und Rohstoffen konfrontiert, wie es ihn selbst unter der britischen Herrschaft nicht gab. So wuchs in den vergangenen Jahren auch der Widerstand des Volkes gegen Landraub, Sonderwirtschaftszonen (SEZ) und Industrialisierungsprojekte. Angesichts der unnachgiebigen Haltung der Eliten nahmen die Reaktionen oft gewaltsame und bewaffnete Formen an - mit oder ohne politische Führung.

Wie wirkt sich die Weltwirtschaftskrise aus?

Indien kann die Krise nicht aussperren. Die Arbeitslosigkeit ist angewachsen, und noch immer kommt es zu Massenkündigungen. Fünf Millionen Arbeiter haben bis dato ihre Stelle verloren, genauso viele wie in den USA. Die Textilindustrie ist am stärksten betroffen. Auch die Mittelklassen spüren die Auswirkungen; der Traum eines komfortablen westlichen Mittelstandslebens hat sich ausgeträumt. Nun sind auch bisher privilegierte Angestellte betroffen, etwa im Informatikbereich. In Gurgaon ...

... einem Vorort von Delhi, in dem solche Industrien konzentriert sind ...

... schlossen sich erstmals Ingenieure einem Streik von Arbeitern an. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, daß die Kämpfe von Arbeitern und Bauern zusammengehen. Erstmals seit 60 Jahren verkehrt sich das Muster der Binnenmigration. Die Menschen verlassen die Städte und kehren aufs Land zurück. Aber sie finden weder da noch dort eine Lebensgrundlage. Das ländliche Indien hat nichts mehr zu bieten. Die Landwirtschaft schrumpft, obwohl 60 Prozent der Bevölkerung von ihr leben. Die im vergangenen Jahrhundert so mühsam errungene Lebensmittelsicherheit ging durch den Neoliberalismus wieder verloren. Und trotz zahlreicher Verträge lassen die ausländischen Investitionen in die Industrie auf sich warten.

Vor diesem Hintergrund kommt es sowohl auf dem Land als auch in der Stadt immer wieder zu Protesten. Glücklicherweise gibt es eine revolutionäre Bewegung, die den spontanen Aufruhr organisieren kann. Das Potential für revolutionäre Kräfte ist groß, denn die Auswirkungen der Krise treiben die Menschen zum Kampf gegen das System.

Wie schätzen Sie die Militäroffensive »Grüne Jagd« ein, die vergangenen Herbst begann und sich gegen den Widerstand der Adivasis, der Ureinwohner, richtet, die gegen die Vertreibung von ihrem Land protestieren?

Bei der »Operation Green Hunt« handelt es sich um einen richtigen Krieg mit 250000 Soldaten und Unterstützung durch US-Militärlogistik. Aber bis jetzt konnten keine sichtbaren Erfolge erzielt werden. Hunderte Zivilisten mußten ihr Leben lassen - genauso wie einfache Soldaten, die weder die lokalen Sprachen noch den politischen Hintergrund des Konflikts verstehen. Angesichts ihres Mißerfolgs wählen die Regierungstruppen oft »weiche Ziele« aus und begehen zunehmend Greueltaten. Sie mußten von den Maoisten schwere Schläge einstecken, die einige hochrangige Militärs töten konnten. Die Moral der Truppen ist dementsprechend im Schwinden.

Wie reagiert die Bevölkerung in den Städten, besonders der gebildete Mittelstand?

Im Mittelstand beginnt das Bewußtsein zu wachsen; Polarisierung nimmt mit den sich verändernden Umständen zu. Die Opposition gegen die »Grüne Jagd« wird hörbar, und große Ausbrüche sind nicht mehr sehr weit entfernt. Die Regierung mußte daher das Tempo aus den Angriffen herausnehmen. Tatsache ist, daß sich eine Vielzahl der großen Industrie- und Bergbauprojekte angesichts des Widerstands in der Schwebe befindet.

Sprechen die Medien auch in Indien über die Bedrohung durch den Terror?

Die US-amerikanische Politik wird einfach kopiert und gegen jegliche seriöse Opposition in Stellung gebracht. Gegen einfache Demonstrationen rückt die Armee aus. Die Muslime werden kollektiv zu Terroristen erklärt, genauso wie die Adivasis und Dalits ...

... die Kaste der Unberührbaren.

Die US-Ideologie wird in exzessiver Weise durch die indischen Eliten benutzt. 2008 beschloß man den Unlawful Activity Prevention Act, der Maoismus mit Terrorismus gleichsetzt. Im Visier sind auch die politischen Organisationen der muslimischen Minderheit, sowie die Befreiungsbewegungen in Kaschmir und im Nordosten.

Wurden Sie nicht selbst verdächtigt, Helfer der Maoisten zu sein?

Die Regierung versuchte in den vergangenen Monaten mehrfach, mich mit verbotenen Organisationen in Zusammenhang zu bringen, da ich mich an der Kampagne gegen das Verbot der Kommunistischen Partei Indiens (Maoisten) beteiligte. Die konkreten Anschuldigen sind lachhaft. Wie kann ich an einer taktischen Gegenoffensive teilnehmen oder Mitgliedern des Zentralkomitees Unterschlupf gewähren? Sie behaupten, ich würde den Maoisten Breite verleihen. Meine Ansichten würden vom ZK bei seinen Entscheidungen berücksichtigt. In dieser Weise kann ich für alles, was in Indien geschieht, verantwortlich gemacht werden. Im Grunde werde ich für meine politische Gesinnung und Meinung verfolgt.

Das ist Teil eines breiter angelegten Versuchs, demokratische Stimmen und die Opposition gegen die volksfeindliche Politik der Regierung zum Schweigen zu bringen. Sie haben Angst vor der wachsenden kritischen Stimmung gegenüber ihrer Militäroffensive, die sich gegen die ärmsten der Armen richtet, denen ihr Land und damit die Lebensgrundlage entzogen wird. Zuerst verboten sie die Widerstandsorganisationen. Nun verbrennen sie die Umgebung.

Abschließend zur Geopolitik: ist es möglich, daß Indien einen Block mit China und Rußland zugunsten eines multipolaren Systems eingeht?

Indien hat sich zum wichtigsten Verbündeten der USA in der Region gemausert. Ich sehe auf absehbare Zeit keinerlei Bedingungen dafür, daß sich das ändern könnte. Die Eliten ordnen sich Washington völlig unter, und der Tendenz nach wird das immer schlimmer.

Interview: Wilhelm Langthaler, Neu-Delhi

* Aus: junge Welt, 14. April 2010


Zurück zur Indien-Seite

Zur Seite "Armut, Hunger"

Zurück zur Homepage