"Krieg gegen die Armen"
Ausverkauf von Land, Wald, Wasser und Rohstoffen: In Indien werden ganze Landstriche an Konzerne verscherbelt, und das Militär macht Jagd auf Adivasis und Dalits. Gespräch mit G.N. Saibaba
G.N. Saibaba ist Assistenzprofessor für europäische Literatur an
der prestigeträchtigen New Delhi University. Er zählt zu den Exponenten
der demokratischen Opposition und spielt eine zentrale Rolle in der
Koordination der verschiedenen Widerstandsbewegungen. Der an den
Rollstuhl gefesselte Wissenschaftler repräsentiert die Revolutionäre
Demokratische Front (RDF).
In der Regierungskampagne »India Shining« wurde der Bevölkerung Ihres
Landes versprochen, die durch die Globalisierung forcierte
Industrialisierung bringe auch für die Armen Wohlstand. Hat sich das
bewahrheitet?
Die Politik der Globalisierung bedeutete in Indien zuerst die
Bereicherung der herrschenden Oligarchie. Eine Handvoll Familien hält
die Schalthebel der Macht besetzt. Dank dieser Stellung gelang es ihnen,
insbesondere in den vergangenen 20 Jahren sehr, sehr reich zu werden.
Heute gibt es in Indien zahlreiche Milliardäre. Auf der anderen Seite
sind 80 Prozent der Bevölkerung gezwungen, von weniger als einem halben
Dollar pro Tag zu leben. Eine tägliche warme Mahlzeit wird da zum
Problem. Selbst nach den regierungseigenen Statistiken war das vor 20
Jahren noch nicht der Fall. Indien verfolgt die neoliberale
Freihandelspolitik besonders aggressiv und hofft dabei auf die
Vermarktung seiner ungehobenen natürlichen Reichtümer. Gleichzeitig ruft
die wachsende Armut und Ungleichheit auch neue große Konflikte hervor.
Die vergangenen sechs Jahre waren indes von einer zweiten Welle an
Reformen geprägt. In der ersten Phase war es vor allem um die
Liberalisierung der Wirtschaft und die entsprechenden gesetzlichen
Rahmenbedingungen gegangen. Im Zentrum standen IT und Software. Aber es
kam nur zu wenigen ausländischen Investitionen. Das hat sich geändert.
Hunderte Absichtserklärungen mit multinationalen Konzernen wurden
unterzeichnet, überwiegend im Bereich des Bergbaus. Vor allem in
Zentral- und Ostindien sind reiche Vorkommen an Eisenerz, Steinkohle,
Bauxit, Kalk und anderen Mineralien nachgewiesen, die der Westen gerne
ausbeuten möchte.
Unglaublich große Landstriche werden so an Großkonzerne verscherbelt.
Wir sind mit einem Ausverkauf von Land, Wald, Wasser und Rohstoffen
konfrontiert, wie es ihn selbst unter der britischen Herrschaft nicht
gab. So wuchs in den vergangenen Jahren auch der Widerstand des Volkes
gegen Landraub, Sonderwirtschaftszonen (SEZ) und
Industrialisierungsprojekte. Angesichts der unnachgiebigen Haltung der
Eliten nahmen die Reaktionen oft gewaltsame und bewaffnete Formen an -
mit oder ohne politische Führung.
Wie wirkt sich die Weltwirtschaftskrise aus?
Indien kann die Krise nicht aussperren. Die Arbeitslosigkeit ist
angewachsen, und noch immer kommt es zu Massenkündigungen. Fünf
Millionen Arbeiter haben bis dato ihre Stelle verloren, genauso viele
wie in den USA. Die Textilindustrie ist am stärksten betroffen. Auch die
Mittelklassen spüren die Auswirkungen; der Traum eines komfortablen
westlichen Mittelstandslebens hat sich ausgeträumt. Nun sind auch bisher
privilegierte Angestellte betroffen, etwa im Informatikbereich. In
Gurgaon ...
... einem Vorort von Delhi, in dem solche Industrien konzentriert sind ...
... schlossen sich erstmals Ingenieure einem Streik von Arbeitern an. Es
gibt deutliche Anzeichen dafür, daß die Kämpfe von Arbeitern und Bauern
zusammengehen. Erstmals seit 60 Jahren verkehrt sich das Muster der
Binnenmigration. Die Menschen verlassen die Städte und kehren aufs Land
zurück. Aber sie finden weder da noch dort eine Lebensgrundlage. Das
ländliche Indien hat nichts mehr zu bieten. Die Landwirtschaft
schrumpft, obwohl 60 Prozent der Bevölkerung von ihr leben. Die im
vergangenen Jahrhundert so mühsam errungene Lebensmittelsicherheit ging
durch den Neoliberalismus wieder verloren. Und trotz zahlreicher
Verträge lassen die ausländischen Investitionen in die Industrie auf
sich warten.
Vor diesem Hintergrund kommt es sowohl auf dem Land als auch in der
Stadt immer wieder zu Protesten. Glücklicherweise gibt es eine
revolutionäre Bewegung, die den spontanen Aufruhr organisieren kann. Das
Potential für revolutionäre Kräfte ist groß, denn die Auswirkungen der
Krise treiben die Menschen zum Kampf gegen das System.
Wie schätzen Sie die Militäroffensive »Grüne Jagd« ein, die vergangenen
Herbst begann und sich gegen den Widerstand der Adivasis, der
Ureinwohner, richtet, die gegen die Vertreibung von ihrem Land protestieren?
Bei der »Operation Green Hunt« handelt es sich um einen richtigen Krieg
mit 250000 Soldaten und Unterstützung durch US-Militärlogistik. Aber bis
jetzt konnten keine sichtbaren Erfolge erzielt werden. Hunderte
Zivilisten mußten ihr Leben lassen - genauso wie einfache Soldaten, die
weder die lokalen Sprachen noch den politischen Hintergrund des
Konflikts verstehen. Angesichts ihres Mißerfolgs wählen die
Regierungstruppen oft »weiche Ziele« aus und begehen zunehmend
Greueltaten. Sie mußten von den Maoisten schwere Schläge einstecken, die
einige hochrangige Militärs töten konnten. Die Moral der Truppen ist
dementsprechend im Schwinden.
Wie reagiert die Bevölkerung in den Städten, besonders der gebildete
Mittelstand?
Im Mittelstand beginnt das Bewußtsein zu wachsen; Polarisierung nimmt
mit den sich verändernden Umständen zu. Die Opposition gegen die »Grüne
Jagd« wird hörbar, und große Ausbrüche sind nicht mehr sehr weit
entfernt. Die Regierung mußte daher das Tempo aus den Angriffen
herausnehmen. Tatsache ist, daß sich eine Vielzahl der großen Industrie-
und Bergbauprojekte angesichts des Widerstands in der Schwebe befindet.
Sprechen die Medien auch in Indien über die Bedrohung durch den Terror?
Die US-amerikanische Politik wird einfach kopiert und gegen jegliche
seriöse Opposition in Stellung gebracht. Gegen einfache Demonstrationen
rückt die Armee aus. Die Muslime werden kollektiv zu Terroristen
erklärt, genauso wie die Adivasis und Dalits ...
... die Kaste der Unberührbaren.
Die US-Ideologie wird in exzessiver Weise durch die indischen Eliten
benutzt. 2008 beschloß man den Unlawful Activity Prevention Act, der
Maoismus mit Terrorismus gleichsetzt. Im Visier sind auch die
politischen Organisationen der muslimischen Minderheit, sowie die
Befreiungsbewegungen in Kaschmir und im Nordosten.
Wurden Sie nicht selbst verdächtigt, Helfer der Maoisten zu sein?
Die Regierung versuchte in den vergangenen Monaten mehrfach, mich mit
verbotenen Organisationen in Zusammenhang zu bringen, da ich mich an der
Kampagne gegen das Verbot der Kommunistischen Partei Indiens (Maoisten)
beteiligte. Die konkreten Anschuldigen sind lachhaft. Wie kann ich an
einer taktischen Gegenoffensive teilnehmen oder Mitgliedern des
Zentralkomitees Unterschlupf gewähren? Sie behaupten, ich würde den
Maoisten Breite verleihen. Meine Ansichten würden vom ZK bei seinen
Entscheidungen berücksichtigt. In dieser Weise kann ich für alles, was
in Indien geschieht, verantwortlich gemacht werden. Im Grunde werde ich
für meine politische Gesinnung und Meinung verfolgt.
Das ist Teil eines breiter angelegten Versuchs, demokratische Stimmen
und die Opposition gegen die volksfeindliche Politik der Regierung zum
Schweigen zu bringen. Sie haben Angst vor der wachsenden kritischen
Stimmung gegenüber ihrer Militäroffensive, die sich gegen die ärmsten
der Armen richtet, denen ihr Land und damit die Lebensgrundlage entzogen
wird. Zuerst verboten sie die Widerstandsorganisationen. Nun verbrennen
sie die Umgebung.
Abschließend zur Geopolitik: ist es möglich, daß Indien einen Block mit
China und Rußland zugunsten eines multipolaren Systems eingeht?
Indien hat sich zum wichtigsten Verbündeten der USA in der Region
gemausert. Ich sehe auf absehbare Zeit keinerlei Bedingungen dafür, daß
sich das ändern könnte. Die Eliten ordnen sich Washington völlig unter,
und der Tendenz nach wird das immer schlimmer.
Interview: Wilhelm Langthaler, Neu-Delhi
* Aus: junge Welt, 14. April 2010
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