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Kriminelle Politiker

Indien: Details über das Führungspersonal der "größten Demokratie der Welt"

Von Hilmar König, Neu-Delhi *

Die größte Demokratie der Welt, wie indische Politiker gern ihr Gesellschaftssystem preisen, hat ihre interessanten Besonderheiten. Dieser Tage machte »Kriminalität in der politischen Klasse« Schlagzeilen. Die beiden indischen Nichtregierungsorganisationen National Election Watch (NEW) und Association for Democratic Reforms (ADR) veröffentlichten dazu gerade eine aufschlußreiche Analyse.

Im November und Dezember finden in den indischen Bundesstaaten Chhattisgarh, Madhya Pradesh, ­Mizoram und Rajasthan sowie im Unionsgebiet Delhi Wahlen zu den Volksvertretungen statt. Durchforstet wurden die Bewerbungsunterlagen von Parlamentariern, die bei Wahlen im Jahre 2008 in den vier Bundesstaaten und Delhi ein Mandat erhielten. 128 von insgesamt 607 Abgeordneten (21 Prozent, in Delhi gar 43 Prozent) gaben zu, daß gegen sie Strafverfahren liefen. Bei 47 Personen handelte es sich nach eigenen Angaben um schwere Fälle wie beispielsweise Mord, versuchter Mord, Entführung oder »Versklavung« von Beschäftigten. Die Zeitung Hindustan Times meint allerdings, die Mehrzahl der Vergehen sei trivialer Natur.

Erst zu Beginn des Monats hatte die regierende Vereinte Progressive Allianz versucht, sich mit einer Verordnung über ein Urteil des Höchsten Gerichtshofes hinwegzusetzen. Die Richter entschieden, daß abgeurteilte Abgeordnete sofort ihr Mandat verlieren. Die Regierung wollte das umgehen oder abschwächen. Erst öffentlicher Druck, Protest der Opposition, ein zögerliches Staatsoberhaupt, das die Verordnung hätte absegnen müssen, sowie Widerstand aus den eigenen Reihen, unmißverständlich artikuliert durch den Politiker Rahul Gandhi, führten zum Nachgeben in Neu-Delhi.

Ein aktueller Fall, der vorige Woche Aufsehen erregte, paßt ins Bild. Der prominente Ex-Chefminister des Bundesstaates Bihar und mehrmalige Eisenbahnminister Indiens, Lalu Prasad Yadav, wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt und sitzt bereits ein. Er war an einem 16 Jahre zurückliegenden großangelegten Betrug im Futtermittelhandel beteiligt, bei dem mehr als 370 Millionen Rupien an der Staatskasse vorbei in private Taschen flossen. Yadav wird zwar seine Partei, die Rashtriya Janata Dal, aus dem Gefängnis weiter führen. Aber als Kandidat für die nächsten Parlamentswahlen im Frühjahr kann er nicht mehr aufgestellt werden. Das wäre früher durchaus möglich gewesen.

Die beiden Nichtregierungsorganisationen enthüllten in ihrer Analyse weitere interessante Fakten. So sind in den untersuchten Bundesstaaten 43 Prozent der insgesamt 607 Abgeordneten »Crorepatis«. Ein Crore ist nach indischer Zählweise das Äquivalent für 10 Millionen. »Crorepatis« sind demnach Millionäre, wenn nicht gar Milliardäre. Auch hier liegt Delhi wieder an der Spitze mit 69 Prozent aller Volksvertreter. Das nährt den Verdacht, so die Zeitung Mail Today, daß Unsummen gezahlt werden, um ein Mandat zu ergattern. Das Blatt beklagt den Zusammenhang zwischen Geld und politischer Karriere sowie zwischen »Money and crime«. Aus der Analyse lassen sich viele Rückschlüsse ziehen, beispielsweise auch auf Gleichberechtigung und »politischen Wert« der Frauen: Elf Prozent der Abgeordneten sind Frauen. Rajasthan, wo eine ausgeprägte Männergesellschaft herrscht, liegt überraschend mit 14 Prozent Anteil vorn, in Delhi sind es magere vier Prozent. Die Volksvertretung in Mizoram ist zu 100 Prozent männlich. Das Ergebnis unterstreicht die Berechtigung der Forderungen etlicher politischer Parteien und indischer Frauenverbände nach einer Quote von 33 Prozent für weibliche Abgeordnete im Zentralparlament und in den Volksvertretungen der Bundesstaaten.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 10. Oktober 2013


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