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Revolutionsaufrufe auf Indiens Straßen

Regierung sieht sich mit wachsender Volksbewegung gegen Korruption konfrontiert

Von Henri Rudolph, Delhi *

Auch am Mittwoch (17. Aug.) hielten in Indien die Proteste gegen die Festnahme des Bürgerrechtlers Anna Hazare an. Die Behörden wollen dessen Bewegung »Indien gegen Korruption« abwürgen.

Premier Manmohan Singh wurde am Mittwoch im Parlament immer wieder von Zwischenrufen unterbrochen, als er erklärte, seine Regierung lehne die Methoden Hazares ab. Doch die Bevölkerung solidarisiert sich unmissverständlich mit der Kampagne. Immer wieder war in den vergangenen Tagen auf den Straßen indischer Städte der Ruf »Inqelab Sindabad!« (Es lebe die Revolution!) zu hören.

Die Regierung der Vereinten Progressiven Allianz muss eine Revolution wohl fürchten, denn sonst hätte sie den harmlosen, friedlichen, betagten Anna Hazare am Dienstag nicht in Vorbeugehaft genommen. Hazare und seine engagierten Mitstreiter wollen das auf allen Ebenen verbreitete Übel der Korruption ausrotten und dafür eine mit Vollmachten ausgestattete Institution »Lokpal« ins Leben rufen. Ihre Vorstellungen formulierten sie in einem Gesetzentwurf formuliert, den sie auch mit Regierungsvertretern debattiert hatten. Die aber lehnten das Papier ab. Stattdessen legte die Regierung dem Parlament einen eigenen, nach allgemeiner Einschätzung unzureichenden Entwurf vor, der an den Missständen, die bis in höchste Kreise reichen, wenig ändern würde.

Das »Team Anna« entschloss sich daraufhin, ab 16. August in Delhi in einen unbegrenzten Hungerstreik zu treten. Die Polizei genehmigte wegen »Sicherheitsbedenken« aber nur einen dreitägigen Proteststreik, der mit insgesamt 22 Auflagen verknüpft war.

Das konnte Anna Hazare als bewusster Bürger der »größten Demokratie der Welt« nicht akzeptieren. Als er sich am Dienstag auf den Weg zur Gandhi-Gedenkstätte machen wollte, um dort vor Beginn seines Hungerstreiks zu meditieren, nahm die Polizei nicht nur ihn, sondern fast alle Mitglieder seines Führungsstabs fest – »auf Befehl von oben«, wie ihm ein Beamter mitteilte. Der gewaltlose Gandhi-Anhänger stelle ein Risiko für die Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung dar, hieß es.

Ursprünglich wollte man Hazare sieben Tage in Verwahrung nehmen. Aus dem Polizeiauto rief Hazare: »Das ist der zweite Freiheitskampf, und diese Bewegung wird nun nicht mehr aufzuhalten sein.«

Kurz darauf strömten Tausende in Delhi, in Hazares Heimatstaat Maharashtra und anderen Unionsstaaten auf die Straßen. Sie versammelten sich auch vor dem Tihar-Gefängnis in Delhi, wo das »Team Anna« inzwischen einsaß. In Gandhi-T-Shirts riefen sie »Inqelab Sindabad!«, schwenkten Nationalflaggen und hielten Transparente mit der Aufschrift »Wir stehen zu Hazare« in die Kameras. Abends bildeten sie Lichterketten, sangen patriotische Lieder und schwenkten Kerzen. Rund 1500 Protestierende wurden festgenommen.

Der Aufschrei der Bürger fand sein Echo im Parlament. Die Opposition sprach von »Ermordung der Demokratie« und von einem »Ausnahmezustand« draußen, dem ein Ausnahmezustand im Parlament folgen müsse. Die Sitzungen mussten abgebrochen werden.

Brinda Karat, Politbüromitglied der KPI (Marxistisch), nannte das Vorgehen der Polizei eine »Attacke auf demokratische Rechte«. Arun Jaitley von der Indischen Volkspartei BJP fragte: »Haben wir die Bürgerrechte und das Recht auf friedlichen Protest abgeschafft?« Joga-Guru Baba Ramdev, der im Juli eine eigene Antikorruptionskampagne initiiert hatte, meinte, diese Regierung sei »diktatorisch, unbarmherzig und manipuliert«. Der ehemalige Chefminister von Andhra Pradesh, Chandrababu Naidu, bezeichnete das Geschehen als »Höhepunkt der despotischen Herrschaft der von der Kongresspartei geführten Vereinten Progressiven Allianz«. Und der Präsident der Janata Party, Subramanian Swamy, kritisierte: Mit der Festnahme Hazares sei »Indiens einzigartiger Anspruch, die größte Demokratie der Welt zu sein, ausgelöscht worden«.

Etliche Minister schoben der Polizei den Schwarzen Peter zu: Sie habe unabhängig, ohne politische Anweisungen gehandelt. Innenminister Chidambaram erklärte: »Demokratische und friedliche Proteste sind Teil der Rechte freier Bürger. Wir anerkennen dieses Recht, aber es ist gebunden an Bedingungen, die von Behörden gestellt werden, deren Aufgabe die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung ist.«

Die »revolutionären Manifestationen der Zivilgesellschaft« beeindruckten selbst Kreise der Regierung. Rahul Gandhi, Generalsekretär der Kongresspartei, intervenierte am frühen Dienstagabend angeblich bei Premier Manmohan Singh und sprach sich für die Freilassung Hazares und seiner Leute aus. Gegen 22 Uhr wurde diese Entscheidung verkündet. Doch Anna Hazare weigerte sich, das Gefängnis zu verlassen. Er besteht darauf, dass er seinen Hungerstreik bedingungslos und unbegrenzt fortsetzen darf.

Wer am Ende nachgeben wird, ist momentan noch nicht absehbar. Fest steht: Noch nie in der 64-jährigen Geschichte der indischen Unabhängigkeit wurde das Geschwür der Korruption so energisch und unerschrocken ins Licht der Öffentlichkeit gerückt.

* Aus: Neues Deutschland, 18. August 2011


"Zweiter Freiheitskampf"

Indien: Protestwoge nach Festnahme des Bürgerrechtlers Anna Hazare

Von Ashok Rajput, Neu-Delhi **


Die Festnahme des prominenten Bürgerrechtlers Anna Hazare am Dienstag (16. Aug.), der entschlossen gegen die grassierende Korruption in Indien kämpft, hat quer durchs Land eine Protestwoge ausgelöst. Ursprünglich wollte man ihn sieben Tage in Verwahrung nehmen. Aus dem Polizeiauto rief Hazare: »Das ist der zweite Freiheitskampf, und diese Bewegung wird nun nicht mehr aufzuhalten sein.« Die ganze Nacht vom Dienstag zum Mittwoch hatten Hunderte Hazare-Sympathisanten vor dem Tihar-Gefängnis in Delhi, wo ihr Idol festgehalten wurde, als »Wächter« ausgeharrt. Am Mittwoch (17. Aug.) schwoll die Menge erneut um Tausende Freiwillige an.

Anna Hazare mußte auf Druck der Öffentlichkeit und aller oppositionellen Parteien noch am späten Dienstag freigelassen werden. Angeblich hatte sich Rahul Gandhi, der Generalsekretär der regierenden Kongreßpartei, bei einer Unterredung mit Premier Manmohan Singh dafür eingesetzt. Doch der 74jährige Gandhi-Anhänger weigerte sich, das Gefängnis zu verlassen. Er fordert, daß alle Bedingungen der Behörden, die seinen unbefristeten Hungerstreik einschränken, aufgehoben werden und er seine Aktion unbehelligt in einem öffentlichen Park in Neu-Delhi durchführen kann. Inzwischen begann er auf dem Gelände des Gefängnisses mit seinem Fasten.

Wie schon am Dienstag gingen auch am Mittwoch Tausende Inder überall im Land auf die Straßen – in Delhi, in Hazares Heimatstaat Maharashtra, in Assam, Westbengalen, Orissa, Kerala, Gujarat, Karnataka, Andhra Pradesh, Tamil Nadu, in Uttar Pradesh, Rajasthan, Haryana und Punjab. In Sprechchören war zu hören »Inqelab Sindabad!« (Es lebe die Revolution!). Sie schwenkten Nationalflaggen, hatten sich Gandhi-Käppis aufgesetzt und T-Shirts mit dem Porträt des »Vaters der Nation« angezogen. Sie hielten Plakate mit der Aufschrift »Wir stehen zu Hazare« und Fotos des Bürgerrechtlers in die Kameras. Rund 1500 Protestierende wurden allein in der Hauptstadt festgenommen.

Im Parlament fand der Aufschrei der Bürger ein entsprechend starkes Echo. Die Opposition sprach von »Ermordung der Demokratie« und von einem »Ausnahmezustand draußen, dem ein Ausnahmezustand im Parlament« folgen müsse. Brinda Karat, Politbüromitglied der KPI (Marxistisch), nannte das Vorgehen der Polizei eine »Attacke auf demokratische Rechte«. Arun Jaitley von der Indischen Volkspartei BJP fragte: »Haben wir die Bürgerrechte und das Recht auf friedlichen Protest abgeschafft?« Joga-Guru Baba Ramdev, der im Juli eine eigene Antikorrputionskampagne initiiert hatte, meinte, diese Regierung sei »diktatorisch, unbarmherzig und manipuliert«. Der ehemalige Chefminister von Andhra Pradesh, Chandrababu Naidu, glaubte, das sei der »Höhepunkt der despotischen Herrschaft der von der Kongreßpartei geführten Vereinten Progressiven Allianz«.

Der Präsident der Janata Party, Subramanian Swamy, kritisierte scharf: Mit der Festnahme Hazares sei »Indiens einzigartiger Anspruch, die größte Demokratie der Welt zu sein, ausgelöscht worden«. Das Sozialistische Einheitszentrum Indiens (Kommunistisch) definierte Hazares Festnahme sogar als »administrativen Faschismus«.

Premier Singh und seine Ministerriege verteidigten das Vorgehen der Polizei gegen die Bewegung »Indien gegen Korruption«. Hazare habe das Recht zum Protest, müsse sich aber an die Auflagen der Behörden halten.

** Aus: junge Welt, 18. August 2011

Ghandianer

Die indische Regierung steht seinen Methoden machtlos gegenüber: Der öffentlichen Druck war derart hoch, dass die Polizei es dem Anti-Korruptions-Aktivisten Anna Hazare genehmigen musste, seinen Hungerstreik öffentlich mitten in Neu-Delhi fortzuführen. Noch am Dienstag waren der 74- jährige Hazare und rund 1400 seiner Anhänger vor dem geplanten Hungerstreik festgenommen worden. Als er am selben Tag freigelassen werden sollte, weigerte er sich, das Gefängnis zu verlassen, wenn ihm sein öffentlicher Protest – gegen die weitverbreitete Korruption – nicht erlaubt würde. Er begann, in seiner Zelle zu hungern. Zehntausende Inder solidarisierten sich mit ihm und gingen landesweit auf die Straße. Mit Erfolg.

Der Junggeselle Anna Hazare wuchs in dem winzigen Dorf Ralegan Siddhi im westindischen Bundesstaat Maharashtra auf und kämpft bereits seit 20 Jahren gegen die Korruption im Land. Im April dieses Jahres gelang es ihm, die Regierung durch einen Fastenstreik zu zwingen, ein Komitee einzurichten, das sich mit einem Gesetzentwurf gegen Korruption beschäftigen sollte. Hazare forderte eine unabhängige Behörde, die Fälle von Korruptionsverdacht untersucht und der Strafverfolgung übergeben kann. Doch das im Juli vorgelegte Ergebnis entsprach nicht den Vorstellungen Hazares und seines »Teams«. Sie kündigten an, ihren Kampf weiterzuführen.

Anna Hazare hat großen Rückhalt in der Bevölkerung: Er handelt nach dem Vorbild Mahatma Gandhis und verkörpert – anders als die Elite des Landes – Bescheidenheit. Er gilt als glaubwürdig und genießt deswegen Respekt.

Während des Krieges 1965 mit Pakistan lenkte er als Kraftfahrer Lastwagen in einer Kolonne. Als diese bombardiert wurde, kam nur er lebend davon. »Es war, als hätte ich ein neues Leben geschenkt bekommen«, erzählte er später. Daraufhin habe er sich entschlossen, das neu gewonnene Leben in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen. Indem er sich auf traditioneller Methoden des Wassermanagements besann, verhalf er seinem Heimatdorf zu Hoffnung und Aufschwung.

Sein Engagement fand öffentliche Anerkennung, die Regierung zeichnete ihn mit Preisen aus. Jetzt ist es die Regierung selbst, die in den Fokus des Aktivisten geraten ist. Antje Stiebitz

Quelle: Neues Deutschland, 19. August 2011




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