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"Halbfinalsieg" für Bürgerrechtler

Von Hilmar König *

Ein »Fasten bis zum Tode« hat in Indien den Stein gegen ein verbreitetes Übel ins Rollen gebracht: Bestechung. Auf unerwartet starken Druck der Bürgerbewegung lenkte die Regierung dieser Tage ein. Bis Ende Juni soll ein effektives Antikorruptionsgesetz ausgearbeitet und bis zum Unabhängigkeitstag am 15. August vom Parlament verabschiedet werden.

Als Motor der Kampagne »Indien gegen Korruption« erwies sich der prominente Sozialaktivist und »Gandhianer« Anna Hazare. Der 72-Jährige zog mit ein paar Dutzend Gleichgesinnten in den Jantar-Mantar-Park im Zentrum Neu Delhis und setzte sich zum »Fasten bis zum Tode« ins Gras. Es dauerte nicht lange, bis sich diese Protestaktion wie ein Lauffeuer durch die Hauptstadt verbreitete. Mehr und mehr Menschen strömten zum Jantar Mantar, um ihre Unterstützung für Hazares Forderungen zu bekunden. Am Ende waren es über 100 Bürgergruppen, die sich landesweit mit dem »Veteran des gewaltlosen Widerstands« solidarisierten. Die Regierung wollte Anna Hazare zunächst von seinem Vorhaben abbringen. Selbst Kongressparteichefin Sonia Gandhi appellierte an ihn, den Hungerstreik zu beenden.

Hazare verlangte, dass endlich ein »Antikorruptionsgesetz mit Zähnen« auf den Tisch kommt. Seit 40 Jahren wird das Thema Korruption, die auf allen Ebenen praktiziert wird und in jeder Beziehung als ein sozialer und ökonomischer Hemmschuh wirkt, innerhalb und zwischen den politischen Parteien debattiert. Doch das Problem bekam bislang keine Regierung in den Griff. Im Gegenteil, mehr und mehr Skandale, in die auch Spitzenpolitiker verwickelt sind, kommen ans Licht. Ein Beispiel: Gegen das Organisationskomitee der Commonwealth-Spiele, die im Herbst 2010 in Delhi stattfanden, lagen Korruptionsvorwürfe bereits vor, als das Großereignis noch nicht einmal begonnen hatte.

Anna Hazare hält einen Entwurf der Regierung der Vereinten Progressiven Allianz für ein Gesetz gegen Bestechung, das sogenannte Lokpal Bill, nicht nur für viel zu weich, sondern er will auch eine Mitsprache der Bürger. Sein Vorschlag war, ein aus zehn Mitgliedern bestehendes Komitee zu bilden, das einen schärferen Gesetzesentwurf ausarbeitet. Fünf Mitglieder sollten Kabinettsminister und fünf Verfassungsexperten aus der Bürgerbewegung sein. Dafür machte er seinen Hungerstreik. Die Regierung lenkte nach vier Tagen ein, nachdem sich auch Sonia Gandhi für ein schärferes Gesetz ausgesprochen hatte. Hazare brach nach 96 Stunden seinen Hungerstreik ab und erklärte, seine Kampagne, die er als »zweite Bewegung für Indiens Unabhängigkeit« ansieht, werde fortgesetzt. Die Bürgerbewegung errang einen »Halbfinalsieg«.

Nach den Vorstellungen von Hazare und seinen Beratern soll eine zentrale Institution »Lokpal« und in jedem Unionsstaat ein Ableger »Lokayukta« geschaffen werden. Sie sollen völlig unabhängig von den jeweiligen Regierungen arbeiten. Vorwürfe werden zügig behandelt und nicht über Jahre verschleppt. Und: Bürger können sich an diese Institutionen wenden, wenn sie merken, dass ihre Angelegenheiten nicht erledigt werden, weil sie kein Schmiergeld bezahlt haben.

* Aus: Neues Deutschland, 13. April 2011

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