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Versagen und Korruption

Kontrolle deckt Schwachstellen bei gigantischem Infrastruktur- und Beschäftigungsprogramm für Indiens ländlichen Raum auf

Von Thomas Berger, Neu-Dehli *

NEGRA ist eines der Vorzeigeprogramme der indischen Regierung. Vor vier Jahren war das Gesetz zur Grundsicherung von Beschäftigung für die Armen im ländlichen Raum beschlossen worden, das sich hinter dieser Bezeichnung verbirgt. Eine erste umfassende Studie zur Umsetzung hat jetzt diverse Probleme ans Licht gebracht -- von strukturellen Fehlern bis hin zu Korruptionsskandalen. Nur ein Teil der vorgesehene Hilfe kommt tatsächlich bei der Zielgruppe an und verbessert die Infrastruktur in den Dörfern. Während der zuständige Minister sich in medialer Schadensbegrenzung übt, kommt von Sozialaktivisten scharfe Kritik an den Versäumnissen der Regierung.

Mindestens 100 Tage Beschäftigung pro Jahr für ein Mitglied jeder Familie soll möglich sein, so ist es im Gesetz festgeschrieben. Über Straßenbau, Errichtung von Schulen, Krankenstationen und Dorfgemeinschaftshäusern sowie weitere Maßnahmen soll all jenen ein grundlegendes Auskommen garantiert werden, die sich sonst als Tagelöhner durchschlagen und über Monate hinweg ohne Beschäftigung dastehen. Auch Kleinstbauern, deren Ackergröße zur Selbstversorgung nicht ausreicht, können sich auf diese Weise ein Zubrot verdienen. Beinahe über das gesamte politische Spektrum hinweg hatte das Programm anfangs Zuspruch erhalten. Nie zuvor hatte eine indische Regierung ein so weitreichendes Projekt aufgelegt, das im Staatshaushalt mit 390 Milliarden Rupien (umgerechnet 5,7 Milliarden Euro) zu Buche schlägt und zunächst 6,5 Millionen Haushalten des 1,1-Milliarden-Einwohner-Volkes zugute kommen soll.

Wie so oft bestanden die Ankündigungen den Realitätstest nicht. Die unabhängigen Gutachter, die jetzt landesweit die Umsetzung kontrolliert haben, stießen auf eine Fülle von Problemen. Die generelle Apathie eines Teils der Bürokratie, die Lieferungen stocken läßt oder Informationen verhindert, ist dabei nur ein Aspekt. Allein in Ra­jasthan, einem Unionsstaat im Nordwesten des Landes, haben die Kontrolleure 1600 Dörfer und 900 NEGRA-Projektstellen unter die Lupe genommen. Zu späte Zahlung von Löhnen an die durch das Programm Beschäftigten, unvollständige Listen oder solche mit falschen Namen von Berechtigten sowie enorme Verspätungen von bis zu einem Jahr bei den einzelnen Maßnahmen waren die Hauptkritikpunkte. Nach einem Teilbericht aus der nationalen Planungskommission wurde in mehr als 674000 Fällen der zustehende Lohn mindestens 15 Tage zu spät an die Arbeiter ausgezahlt. Manchmal, so Sozialaktivistin Annie Raja, soll der Zahlungsrückstand der Behörden sogar zehn Monate überschreiten.

Den politisch größten Flurschaden richten jedoch die zahlreichen Korruptionsskandale an. Einer der groben Fälle geschah im bevölkerungsreichsten Unionsstaat Uttar Pradesh, wo Kriminelle aus der Verwaltung 8500 Bankkonten unter falschen Namen eröffneten, über die in einer Blitzaktion binnen weniger Tage enorme Mittel aus dem NGERA-Fonds in private Taschen umgeleitet wurden. Der finanzielle Verlust soll sich auf 85 Millionen Rupien belaufen. In anderen Fällen erhielten Personen Lohn, die gar nicht zu den Berechtigten des Programms gehören, während andere, die nachweislich unter die offizielle Armutsgrenze fallen, seit mehr als zwei Jahren vergeblich versuchen, von dem an sich progressiven Gesetz zu profitieren.

In Andhra Pradesh, einem Staat im Südosten des Subkontinents, sind inzwischen 26 Beamte vom Dienst suspendiert worden, weil sie Mittel umgeleitet haben sollen. Mehr als 20 Millionen Rupien kamen nicht an den vorbestimmten Orten an. Und längst nicht der gesamte Betrag hat sich nach den Untersuchungen wieder angefunden, obwohl die Verantwortlichen in den einzelnen Distrikten sogar Sonderermittler benannt hatten, um die Unregelmäßigkeiten aufzuklären. Diese Art von Manipulationen wiederholen sich mit geringen Unterschieden in nahezu allen Teilen des riesigen Landes. Sozialaktivistin Aruna Roy verweist zudem darauf, daß viele Menschen in den ländlichen Gebieten über ihre Rechte nach dem neuen Gesetz gar nicht Bescheid wüßten, damit auch keine Arbeit bei den staatlichen Stellen einfordern könnten. Roy und andere bemängeln darüber hinaus fehlende Transparenz bei der Umsetzung der Projekte, beispielsweise was Material und Kostenstruktur angeht.

In einem Interview mit dem Wochenmagazin The Week räumte der zuständige Minister für ländliche Entwicklung in der Zentralregierung, C. P. Joshi, Probleme ein. Bei insgesamt 250000 Dörfern sei es kaum zu vermeiden, daß es in 1000 Fällen korrupte Praktiken gebe. Allerdings müßten die Schuldigen zur Verantwortung gezogen, Kontrollen verstärkt werden. Auf regionaler Ebene würden deshalb Ombudsleute benannt, um Beschwerden sammeln zu können. Erst nach seinem Antritt als Minister habe er zudem selbst erfahren, daß 67000 der Orte nicht einmal über ein Dorfgemeinschaftshaus verfügen, wo der Dorfrat beispielsweise Arbeitsausweise an die Berechtigten verteilen und diese ihre Anträge stellen können. Solche Hürden, so Joshi, müßten unbedingt genommen werden, bevor das Programm in seine nächste Phase trete. Dann nämlich soll die Zahl der Förderberechtigten noch einmal deutlich erhöht werden. Den generellen Erfolg des Programms bei der Armutsbekämpfung will der Minister aber nicht in Frage stellen lassen.

* Aus: junge Welt, 16. November 2009


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