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Energiekonzerne forcieren die Vertreibung

Gewerkschaftsaktivist Shankar Gopalkrishnan über die Herausforderungen für die indische Linke *


Shankar Gopalkrishnan ist Gewerkschaftsaktivist aus Dehradun im nördlichen Bundesstaat Uttarakhand und Aktivistin der Campaign for Survival and Dignity (Kampagne für das Überleben und Würde), einer nationalen indischen Plattform für die Organisationen von Indigenen und Waldbewohnern sowie in der kürzlich gegründeten Organisation New Path, die sich zum Ziel gesetzt hat, den revolutionären Prozess in Indien durch Massenkämpfe und die Schwächung der neoliberalen Hegemonie zu unterstützen. Mit ihm sprach für »nd« Jürgen Weber.


Bei der Konferenz der Bundestagsfraktion Die Linke »Umverteilen weltweit – Solidarität statt Ausbeutung« im Juni 2013, wurde auch über den gemeinsamen Widerstand gegen Konzernmacht und neoliberale Politik in der EU und »im Süden« diskutiert. Welche Erkenntnisse ziehen Sie aus der Diskussion?

Die sozialen Bewegungen in Europa und in Indien müssen gemeinsam gegen den Finanzkapitalismus vorgehen, gegen die rücksichtslose Plünderung der natürlichen Ressourcen und gegen die Folgen der Austeritätsprogramme, mit denen Europa und Indien derzeit überzogen werden. Es sind heute sowohl in Europa als auch in Indien die gleichen Unternehmen und Finanzinstitutionen, die die Menschen ausbeuten. Um dem etwas entgegensetzen zu können, brauchen wir neue Bündnisstrukturen und solidarisches Handeln. Ein Ziel muss es beispielsweise sein, die Auswirkungen des Freihandelsabkommens zwischen der EU und Indien zu thematisieren und gegen die Freihandelspolitik unserer Regierungen zu kämpfen.

In Indien lehnen Bauern und Bäuerinnen, Arbeiter und Arbeiterinnen, Straßenhändler und kleine Handwerker mittlerweile die neoliberale Politik der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung ab. Die Bevölkerungsgruppen untereinander sind aber oftmals gespalten und sprechen nicht mit einer Stimme ...

Das ist richtig. In Indien gibt es nicht nur viele unterschiedliche Kulturen, sondern eben auch unterschiedliche Ausbeutungsverhältnisse und die allgemeine Verschlechterung der Lebensbedingungen. Die Ausbeutung eines Kleinbauern im Bundesstaat Bihar ist beispielsweise sehr verschieden von den Bedingungen, unter denen Dalits, also die ehemals »Unberührbaren« in Tamil Nadu, arbeiten müssen und ausgebeutet werden. Unser Ziel als Linke muss es deshalb sein, Perspektiven und Forderungen zu formulieren, die alle Facetten der Ausbeutung reflektieren. Wenn für alle klar wird, welche Auswirkungen für alle mit dem heutigen Modernisierungsweg verbunden sind, dann werden sich neue Organisationsformen entwickeln können.

Bei den erfolgreichen Kämpfen in den letzten Jahren gegen Sonderwirtschaftszonen hat es schon neue Bündnisse gegeben ...

Ja und Nein. Diese Bündnisse waren zumeist lokal auf die Gegenden begrenzt, wo Sonderwirtschaftszonen gebaut wurden oder geplant waren. In erster Linie waren es Kämpfe gegen die Vertreibung der Menschen von ihrem Land. Das Problem war und ist, diese Kämpfe zu verallgemeinern, sodass auch diejenigen, die nicht mit Vertreibung konfrontiert sind, sich solidarisieren können. Wer nicht unmittelbar betroffen ist, engagiert sich nicht. In der Organisation New Path (Neuer Weg) haben wir beispielsweise damit begonnen, das Thema Landraub mit dem Thema Strompreiserhöhungen zu verknüpfen. Die Gewinnung von Energie ist heute eine der Hauptursachen für die Vertreibung von Menschen von ihrem Land. Gleichzeitig werden die Kosten für Elektrizität immer höher. Die Kämpfe lassen sich auch deswegen gut miteinander verbinden, weil es die gleichen Unternehmen sind, die für die Vertreibungen verantwortlich sind und die die Profite bei der Energieversorgung einstreichen.

Müssen sich die Kämpfe nicht auch vor allem in den modernen Wachstumssektoren verallgemeinern?

Unbedingt! Die Textilindustrie ist ein gutes Beispiel: Die Mehrheit der Beschäftigten in den Textilzentren wie in Tirupur im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu, wo fast 40 Prozent des Gesamtvolumens für den Export in die EU bestimmt sind, sind heute Arbeitsmigranten aus anderen Gegenden von Tamil Nadu, die von der Landwirtschaft nicht mehr leben können. Sie arbeiten unter extrem schlechten Bedingungen, zumeist auf Stücklohnbasis, sie sind gewerkschaftlich nicht organisiert, für sie wird kein Wohnungsbau oder keine Wasserversorgung bereit gestellt.

Welche Herausforderung bedeutet das für die Linke?

Eine der wichtigsten Fragen, die wir uns als organisierte Linke in Indien stellen müssen, ist: Wie können sich die Beschäftigten, die noch mit längerfristigen Arbeitsverträgen ausgestattet sind und die neu hinzukommenden Arbeitsmigranten, die älteren Leiharbeiter usw. – alle, die heute im unorganisierten Sektor arbeiten – als eine gemeinsame Bewegung organisieren. An vielen Orten gibt es Ansätze neuer Organisationsformen der Arbeiter, unabhängig von formalen Gewerkschaftsorganisationen. Nicht in Tirupur, aber in industriellen Zentren im Norden Indiens, wie beispielsweise in der Fahrzeugproduktion während der wilden Streiks bei Suzuki-Maruti in Manesar im Industriegürtel von Delhi.

Wie könnten diese Streikaktivitäten und die neuen Organisationsformen hegemonial werden?

Ziel muss es sein, demokratische Massenbewegungen aufzubauen und die Kämpfe auszuweiten. Nicht nur, um gegen die Vertreibung indigener Bevölkerungsgruppen und Waldbewohner von ihrem Land und den Wäldern vorzugehen, sondern auch im organisierten und unorganisierten Sektor, in den Städten und in der Landwirtschaft. Dann kann die Vormachtstellung des neoliberalen Denkens und der herrschenden Klasse gebrochen werden.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 30. Juli 2013


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