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Brutale Modernisierung

Der indische Staat setzt mit einem Krieg gegen die eigene Bevölkerung die Interessen multinationaler Konzerne durch

Von Thomas Eipeldauer *

Am 30. Juni 2012 meldeten indische Zeitungen die Tötung von 19 »Maoisten« bei einem Gefecht mit Polizeitruppen im Bundesstaat Chhattisgarh, einer Hochburg der nach einem Aufstand 1967 im westbengalischen Naxalbari benannten »Naxaliten«. Einen Tag später besuchte ein Reporter des Indian Express die drei Dörfer Sarkeguda, Kottaguda und Rajpenta, wo sich der Vorfall ereignet haben soll. Die Bevölkerung bestritt die offizielle Version von »Maoisten«, die das Feuer auf eine Polizeipatrouille eröffnet haben sollen: »Wir saßen gegen 23 Uhr zusammen, als wir plötzlich von den Polizeikräften umstellt wurden und sie zu schießen begannen. Sie schossen, und dann begannen sie, mit Äxten auf die Leute loszugehen«, erzählte Madkam Rama, ein Augenzeuge, dem Blatt. Unter den Toten waren fünf Jugendliche um die 18 Jahre und ein zwölfjähriges Mädchen.

Der Krieg, den die indische Zentralregierung gegen tatsächliche und vermeintliche Maoisten führt, ist längst zu einem Krieg gegen all jene geworden, die sich der brutalen Industrialisierung ruraler Gebiete, begleitet von Landraub und der Vertreibung der einheimischen Bevölkerung, widersetzen. »Wir müssen begreifen, daß die Regierung den Begriff »maoistisch« derart ausdehnt, daß er jedweden politischen Gehalt verliert. Jeder, der über Probleme, über Ungerechtigkeiten spricht, alle, die es ablehnen, ihr Land oder ihre Ressourcen aufzugeben – egal, ob sie bewaffnet sind, oder nicht – werden von der Regierung »Maoisten« genannt«, erklärte die indische Schriftstellerin Arundhati Roy bei einer öffentlichen Vorlesung in Mumbai im Juni 2010.

Ursprüngliche Akkumulation

Der Grund, warum die Regierung in Neu-Delhi so erbittert gegen die in der Communist Party of India – Maoist (CPI-M) und in anderen Gruppen organisierten Naxaliten, die der indische Premierminister Manmohan Singh bereits 2006 die »größte Herausforderung für die innere Sicherheit« nannte, vorgeht, ist offenkundig: Sie leisten einen ernstzunehmenden Widerstand gegen eine brutale Form der Modernisierung in dem über 1,2 Milliarden Einwohner zählenden Land, von der man sich in Neu-Delhi den Aufstieg des Landes zu einer regionalen Hegemonialmacht erhofft.

Karl Marx, als er den Prozeß der »ursprünglichen Akkumulation«, der gewaltsamen Herstellung der Voraussetzungen der kapitalistischen Produktionsweise, beschrieb, betonte, daß das »Kapital von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend« zur Welt komme. In Indien findet ein solcher Prozeß statt, verschärft dadurch, daß er sich unter monopolkapitalistischen Bedingungen vollzieht. Es ist eine Form »ursprünglicher Akkumulation«, bei der die Profitgier multinationaler Konzerne und das Bedürfnis der jeweiligen indischen Regierungen nach einer aufholenden Industrialisierung auf der einen Seite mit den Lebensinteressen großer Teile der indischen Bevölkerung auf der anderen kollidieren.

Besonders betroffen von dieser kapitalistischen Modernisierung sind dabei die Dalits, die »Unberührbaren«, und die Adivasi, die Ureinwohner des Subkontinents, als die beiden vom Klassen- und Kastensystem am meisten diskriminierten Gruppen. Zusammen machen sie etwa 25 Prozent der indischen Bevölkerung aus. Regelmäßig sind sie Opfer von Gewalt, Erniedrigung, Ausbeutung und Vertreibung. Im »Zuge von Bergbau, Staudämmen, Industrialisierungsprojekten, Plantagen oder Nationalparks sind rund 20 Millionen Adivasi vertrieben worden; einige davon mehrfach«, beschrieb der Geschäftsführer der deutschen Adivasi-Koordination, Theodor Rathgeber, in der Zeitschrift Schattenblick im Jahr 2009 den damaligen Stand.

Es sind multinationale Konzerne wie das britische Bergbauunternehmen Vedanta Resources, die indische Tata Steel oder Arcelormittal, die ohne jede Rücksichtnahme auf Natur und Mensch die Bodenschätze des Landes für den Weltmarkt erschließen. »Indische Erze und Mineralien sind für internationale Bergbaukonzerne zum Zukunftsgeschäft geworden, und der indische Staat tut alles, um ihre Ansiedlung zu unterstützen und ihnen den Weg zu ebnen. Und mehr als 80 Prozent der abbaubaren Ressourcen befinden sich in Jharkhand, Chhattisgarh, Orissa und Westbengalen, überwiegend Schwerpunktgebiete der Naxaliten«, so Lutz Getzschmann in seinem 2011 erschienen Buch »Indien und die Naxaliten«.

Konzerninteressen

Es sind die zentralen Interessen der Konzerne und des Staates, gegen die die Guerilla bewaffnet sowie zahlreiche zivile Ini¬tiativen gewaltlos ankämpfen. Dementsprechend brutal ist die Repression. Wie die staatlichen Behörden diesen Krieg führen, zeigt das Beispiel der Lehrerin und Menschenrechtsaktivistin Soni Sori, die am 4. Oktober 2011 unter dem Vorwurf, Kontakte zur CPI-M zu haben, verhaftet wurde. Sie berichtet von Folterungen, Elektroschocks und schweren sexuellen Mißhandlungen im Polizeigewahrsam. Der zuständige Kommandant in Dantewada, Ankit Garg, bekam im Januar 2012, also nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe, den »Polizeiorden für Tapferkeit« verliehen. Das ist kein Einzelfall. Der schwedische Schriftsteller Jan Myrdal, der 2009 auf Einladung der CPI-M die Guerilla in Indien besuchte, beschreibt die Situation so: »In sogenannten Encounters töten Paramilitärs gezielt politische Opponenten. Ihre Leichen werden einfach in den Dschungel geworfen. Das höchste Gericht hat gesagt, dabei handele es sich um Mord. Trotzdem wird weiterhin gemordet und sexuell unterdrückt.« (Neues Deutschland, 24.4.2012)

Neben den regulären Einheiten von Polizei und Militär – wie dem Commando Battalion for Resolute Action (COBRA), standardmäßig ausgestattet mit deutschen Heckler&Koch-Maschinenpistolen, und den Central Reserve Police Force (CRPF) – zählen zu den Akteuren des Krieges eine Reihe von Milizen wie etwa die berüchtigte »Salwa Judum« (Gondi für »kollektive Säuberung«) im Bundesstaat Chhattisgarh. 2005 während eines Konflikts zwischen Teilen der Adivasi-Bevölkerung und der Guerilla von dem Großgrundbesitzer Mahendra Karma gegründet, wurde diese zur staatlich ausgerüsteten Aufstandsbekämpfungsmiliz. Im Zuge der »Salwa Judum«-Kampagne wurden tausende Zivilisten, darunter auch Kinder und Jugendliche, als »Special Police Officers« (SPO) rekrutiert und in den Kampf gegen die Naxaliten geschickt. Über die Praxis der Miliz berichtete im Februar 2010 Sodi Masaiah, ein Überlebender eines Angriffs der Paramilitärs, dem indischen Magazin Tehelka: »Vor vier Wochen griff die Salwa Judum unser Dorf an, mitten in der Nacht. Sie erschossen vier Männer, alle Häuser wurden niedergebrannt. Sie fingen alles Vieh ein, alle Hühner und Ziegen. Was sie nicht aßen, erschossen sie. Alle Menschen aus dem Dorf, die die Salwa Judum finden konnte, wurden zusammengetrieben und in ein nahegelegenes Camp verschleppt.« Im Juli 2011 erklärte der indische Oberste Gerichtshof die Miliz für illegal und forderte ihre Entwaffnung. Der staatliche Terror gegen die Maoisten und mit ihnen gegen die ärmsten Teile der indischen Bevölkerung geht dennoch weiter – samt Menschenrechtsverletzungen, Mord, Folter und Vergewaltigung.

* Thomas Eipeldauer ist Redakteur der Tageszeitung junge Welt.

Aus: junge Welt, Mittwoch, 24. Oktober 2012


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