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Indien: Wenn die Ahnen nicht mehr schützen

Von Joseph Keve, Thekkady *

Im südindischen Bundesstaat Kerala kämpfen viele ethnische Minderheiten mit dem gesellschaftlich-ökonomischen Wandel. Nicht alle finden die richtige Antwort Wie überleben kleine Völker die Globalisierung? Im südindischen Bundesstaat Kerala kämpfen viele ethnische Minderheiten mit dem gesellschaftlich-ökonomischen Wandel. Nicht alle finden die richtige Antwort.

«Ja, ich bin der König. Herzlich willkommen», sagt Aryan Raja Mannan, das joviale 34-jährige Oberhaupt der Mannan, eines der «rückständigen» indigenen Stämme im südindischen Bundesstaat Kerala. «Ich wurde im Dezember 2008 als 16. König der Mannan-Dynastie gekrönt. Mein Vorgänger Nayan Raja Mannan war mein Onkel, und er regierte fast dreissig Jahre lang. Er engagierte sich stark für die Gemeinschaft und studierte gewissenhaft unsere Geschichte und Traditionen.»

Seit drei Generationen leben die Mannan in den bewaldeten Hügeln beim Naturschutzgebiet Thekkady nahe der Grenze zum benachbarten Bundesstaat Tamil Nadu (vgl. Karte unten). Früher jedoch, während der langen Jahre der britischen Herrschaft, waren die abgelegenen und bis zu 2000 Meter hohen Berge von Idukki ihr Siedlungsgebiet gewesen, wo sie abseits der bevölkerten Tiefebenen erst als Jäger und Sammlerinnen, später als Imkerinnen und Flussfischer existieren konnten. Damals wohnten sie in strohgedeckten Hütten unter den riesigen Bäumen der Bergwälder; der Staat war weit weg und hatte keinen Zugriff auf sie.

Das änderte sich 1949. Indien war gerade unabhängig geworden, die Zentralregierung setzte auf eine Industrialisierung und befahl die Umsiedlung der Mannan. Die staatlichen Elektrizitätswerke von Kerala wollten den Periyar stauen, den grössten Fluss des Bundesstaates. Die Mannan mussten dem Grossprojekt weichen. Als 1969 der Idukki-Staudamm, mit knapp 170 Metern immer noch eines der höchsten Bauwerke Indiens, fertiggestellt wurde, waren sie längst weg.

Die alte Kultur

Welche Folgen die Vertreibung für den Stamm, dessen Kultur und den sozialen Zusammenhalt haben würde, konnten die Mannan nicht wissen. Sie liessen sich, wie befohlen, rund siebzig Kilometer weiter südöstlich am Rande des Thekkady-Naturschutzgebiets nieder, trafen dort zum ersten Mal auf andere Stämme – und auf SiedlerInnen aus dem Tiefland, die sich mit ihren kleinen Kaffee-, Pfeffer- und Kardamomplantagen allmählich hügelaufwärts bewegt hatten. Zum ersten Mal waren die rund 50 000 Mannan Einflüssen ausgesetzt, die sie nicht kannten und kontrollieren konnten. Und mit denen sie deswegen nicht zurande kamen.

«Kommt doch herein», sagt der König und bittet uns in seine «Bleibe», wie er die Lehmhütte mit einem grossen Empfangszimmer und einem kleinen Schlafzimmer nennt. Mehr als salbungsvolle Worte sind Aryan Raja Mannan jedoch nicht zu entlocken; kritische Fragen wären unhöflich. Umso gesprächiger ist Raman Thevan, eine hoch angesehene Respektsperson, die viele «Elaya Raja», «kleiner König», nennen. Die alte Kultur gehe durch den Assimilierungsdruck verloren, klagt er: «In zehn Jahren werden sich junge Mannan-Männer und -Frauen von anderen Jugendlichen nicht mehr unterscheiden.» Während die Siedler aus den Tiefebenen ihre Lebensstile mitgebracht und bewahrt hätten, «ist uns nichts geblieben, was die Gemeinschaft zusammenhält».

Die Klage des 55-Jährigen ist verständlich. Als die Mannan noch in dichten Wäldern Tiere jagten und Früchte und Wurzeln sammelten, kannten sie kein Privateigentum. Die Dörfer bestanden aus durchschnittlich dreissig Haushalten, deren Mitglieder alles miteinander teilten; wuchsen die Dörfer zu sehr an, dann gründeten die Jungen anderswo im Wald neue Siedlungen. Vom Raja Mannan, dem König, wurde und wird noch immer erwartet, dass er für Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität einsteht, während die von ihm ernannten Dorfführer die ökonomischen und sozialen Probleme handhabten und den Kontakt mit der Aussenwelt pflegten. Die Dorfältesten wiederum, eine Art zweite Instanz, waren für die Aufrechterhaltung der Sitten und Gebräuche und die Weitergabe des kollektiven Wissens an die nächsten Generationen zuständig.

Wichtige Beschlüsse fällten die Mannans auf den Kalaboots, den jährlichen Generalversammlungen des Stammes. Eine besondere Rolle spielte dabei die Suche nach einem neuen König, denn nur einer der Neffen – und nicht ein direkter Nachfahre – darf dem bisherigen Amtsinhaber folgen. Und wenn es Probleme gab, wenn Dürre herrschte oder Sturzfluten die Hütten bedrohten, waren da die Ahnen und die Götter in den Hügeln, die angerufen werden konnten, weil sie um das Wohlergehen der Dorfgemeinschaften besorgt waren.

Erinnerungen genügen nicht

All das ist bedroht – oder schon in der Vergangenheit versunken. «Die junge Generation schämt sich für unsere Tradition», sagt Raman Thevan. «Wir waren autark und auf niemanden angewiesen. Aber dann kamen zuerst der Idukki-Staudamm und die Vertreibung, danach tauchten die Siedler auf, und jetzt bedrängt uns auch noch der Tourismus des Naturschutzgebiets. So passen sich halt die Jungen an.» Die vielen Niederlagen hätten die frühere Einigkeit untergraben. Denn an die Stelle des Gemeineigentums traten nach der Umsiedlung privat bewirtschaftete Parzellen.

Ramans Sohn Subin Thevan macht sich daher auch mehr Sorgen um seine eigene Zukunft als um das kulturelle Überleben des Stammes. «Wer braucht schon Identität?», fragt er. «Wenn ich auf dem Markt etwas einkaufen will, fragt mich der Händler nicht nach meiner Herkunft. Er will wissen, wie viel Geld ich habe.» Im Unterschied zu seinem Vater, der befürchtet, dass die Kultur der Mannan irgendwann einmal nur noch in Museen gegenwärtig sein könnte, wo ihre Geschichte als die eines kulturlosen Volkes von Animisten präsentiert wird, sieht der 32-Jährige die Lage pragmatisch. «Im Moment kann ich vom Ertrag leben», sagt Subin Thevan, der auf zwei Hektaren Land Kaffeebohnen und Pfeffer anpflanzt. «Aber die Abhängigkeit vom Markt nimmt zu, alles wird teurer.»

Gibt es denn keine Unterstützung von der Regierung? Immerhin regiert in Kerala die Kommunistische Partei Indiens / Marxisten (CPIM), die den Schutz der kleinen Ethnien auf ihre Fahnen geschrieben hat. «Die politische Führung ist die Ursache allen Übels», ereifert sich Lissy Mannan. «Die CPIM und die Kongresspartei haben uns das Blaue vom Himmel versprochen, um Mitglieder zu gewinnen – und dadurch unsere Einheit zerschlagen», sagt die 28-Jährige, die lange Zeit Sekretärin der einflussreichen Frauengruppe des Stammes war. «Früher unterstützten alle die Kommunisten, weil die sich für die Armen einsetzen wollten und eine Landreform versprachen. Doch das haben sie nie umgesetzt.»

Ohne den Rückhalt kollektiver Produktionsformen und die minimale Absicherung durch ein Gemeineigentum, dazu politisch gespalten oder desillusioniert, schlagen sich die jungen Stammesmitglieder auf eigene Faust durchs Leben. Sie sprechen nicht mehr das traditionelle Kanjaveti, einen alten tamilischen Dialekt, sondern das in Kerala gebräuchliche Malayalam. Sie essen nicht mehr Wurzeln und Wildfleisch, sondern Reis und Meeresfische. Sie beschwören nicht mehr ihre Vorfahren, beten nicht mehr zu Berggöttern, sondern besuchen Hindutempel. Und die Bedeutung, die einst Gemeinschaftsfeste hatten, kommt heute Jahrmärkten und individuellen Vergnügen wie Restaurant- und Kinobesuchen zu.

Das Beispiel der Ooralies

Doch gratis sind die neuen Lebensformen nicht. Anders als früher absolvieren die meisten Jugendlichen zwar eine formelle Ausbildung, die neue Generation wohnt auch eher in Ziegelhäusern als in Lehmhütten – aber Partys, Festivals und Konzerte kosten Geld. Die Sehnsucht, endlich dem Mainstream anzugehören, hat bereits viele in die Schuldknechtschaft getrieben: Sie nahmen Kredite auf, bürgten dafür mit ihrem Land und endeten als ZwangsarbeiterInnen.

Dass nicht alle kleinen Ethnien unter dem Druck der Regierungspolitik und der auch Kerala allmählich dominierenden Marktwirtschaft zerbrechen, zeigt das Beispiel der Ooralies. Dieser kleine Stamm in den Wäldern von Kannampady, gerade mal ein Dutzend Kilometer von Thekkady entfernt, hat anders auf den Druck von oben reagiert. «Wir wurden Anfang der siebziger Jahre zwar ebenfalls aus unserem ursprünglichen Gebiet vertrieben, haben uns aber geweigert, die Wälder zu verlassen», erzählt Ramakrishnan, den die 500 Ooralie-Familien als weisen Mann verehren. «Wir begannen, Kaffee, Kardamom und Pfeffer anzubauen, wir pflanzten Reis, Gemüse und Obst an. Aber wir liessen es nie zu, dass unsere Kultur assimiliert wird.» Inzwischen, so der 72-jährige Ramakrishnan, seien alle Ooralie-Familien ökonomisch selbstständig – und diesen Eigensinn hätten selbst die politischen Instanzen akzeptiert.

Anders als die Mannan, die vom Kampf um die Bewahrung ihrer Tradition und um die Anpassung zerrissen wurden, hätten die Ooralies ganz aufs Überleben in den Waldgebieten gesetzt, erläutert Ramakrishnan den Unterschied. Aber das allein gab nicht den Ausschlag. «Wir haben uns auch politisch nicht spalten lassen», sagt seine Frau Rajni: «Manche unserer Söhne und Töchter arbeiten mittlerweile für die Behörden und sitzen in Regierungsämtern.» Wie das? «Weil wir uns schon frühzeitig dazu durchgerungen haben, nicht hinter den grossen Parteien herzuhecheln und deren Spiel mitzuspielen.» Die Ooralies haben weder auf die CPIM noch auf die Kongresspartei vertraut; sie setzten vielmehr auf eine eigene politische Repräsentanz und liessen sich von den Ideen der fast schon vergessenen Janata-Dal-Partei inspirieren, einer linken Volkspartei, die Ende der achtziger Jahre in Delhi in der Regierung war.

Weil sie sich von den grossen Parteien nicht vereinnahmen liessen, gewannen die Ooralie-VertreterInnen rasch an politischem Einfluss in einem Staat, der «backward tribes», rückständigen Stämmen, per Quotenregelung besondere politische Rechte einräumt. Entscheidender für ihren Kampf um Selbstbehauptung ist jedoch, dass die Ooralies weiterhin demokratisch organisiert sind, ihre Führung gemeinsam bestimmen und kollektiv entscheiden, wie das Land aufgeteilt wird, welcher Umgang mit den benachbarten Gemeinschaften gepflegt werden soll, wo was angebaut wird – und wie man das politische System nutzen kann.

Vor allem aber haben sie keinen König. Die Mannan erwarten heute noch von ihrem Oberhaupt, dass es sie sicher durch den ökonomischen, sozialen und kulturellen Wandel führt und sie vor den Kräften schützt, die ihnen das Leben schwer machen. Vielleicht war es diese Fixierung auf eine übergeordnete Instanz, die den Mannan das einstmals vorhandene Durchsetzungsvermögen genommen hat. «Wir haben unsere Schlagkraft verloren», konstatiert jedenfalls Raman Thevan, der «kleine König» der Mannan.

Und der grosse, der richtige König? Der zeigt am Ende des Gesprächs stolz auf einen Neubau, der gerade in der Nähe entsteht. Er ist nicht viel grösser als seine Lehmhütte, hat aber Ziegelmauern. «Das ist die neue Residenz, die mir die Regierung baut», sagt Aryan Raja Mannan. «Das nächste Mal werde ich euch dort empfangen.»

Übersetzung: Pit Wuhrer

* Aus: Schweizer Wochenzeitung WOZ, 12. August 2010

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