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Indiens Kapital sieht grün

Hindernis für neoliberales Modell: Auf dem Subkontinent tobt eine Debatte um Einfluß staatlicher Umweltkontrollen auf Wirtschaftswachstum

Von Thomas Berger *

Das Thema war India Today eine reißerische Aufmachung wert: »Green Terror«, titelte das renommierte Wochenmagazin am 15. Oktober. Darunter prangten die Konterfeis von Jayanthi Natarajan, Umweltministerin der Zentralregierung in Neu-Delhi, und ihrem Amtsvorgänger Jairam Ramesh. Beide trügen maßgeblich Schuld daran, daß das Wirtschaftswachstum des Landes ausgebremst werde. In seinem Editorial legte Chefredakteur Aroon Purie noch nach. Nicht die einschlägigen »archaischen« Gesetze seien verantwortlich für die vermeintliche Misere, sondern die Tatsache, daß Ramesh und seine Nachfolgerin sie tatsächlich umgesetzt hätten. Das Umweltministerium, so der zur Elite der namhaftesten Journalisten des Landes gehörende Purie, sei zu einer echten Macht geworden – eine, deren Einfluß es unbedingt zu beschneiden gelte.

Ein größeres Lob als diese Kritik können sich beide Politiker kaum wünschen. Ihnen wird bezeugt, daß sie etwas bewirken können. Offenbar sind sie mit etlichen Entscheidungen den Konzernen gehörig auf die Füße getreten. Und dies wird in der (zumindest medialen) Öffentlichkeit auch entsprechend wahrgenommen. Die Sache könnte damit abgehakt sein. Doch die Debatte, inwieweit sich wirtschaftlicher Aufschwung und Schutz von Umwelt und Natur vertragen, ist in vollem Gange. Wieviel »grüne« Kontrolle mit Einspruchs- und Vetorechten darf sein, ohne das Wachstum zu gefährden?

Das Jahr 2009 markierte einen Wendepunkt in der indischen Umweltpolitik. Der zum Start der zweiten Legislaturperiode des von der Kongreßpartei (INC) angeführten Regierungsbündnisses Vereinte Progressive Allianz (UPA) neu ins Amt berufene Minister Jairam Ramesh sorgte schon bald für erste Schlagzeilen. Beispielsweise damit, daß er in sein Büro eine Glastür einbauen ließ. Das stand für mehr Offenheit, Transparenz und Kontrolle. Letzteres wurde auch schnell anderweitig deutlich: Der Ressortchef legte sich mit der Industrie wie auch einigen Kabinettskollegen an. Etliche Großprojekte ließ er zumindest erst einmal kritisch prüfen, bevor sie den Stempel der Zustimmung aus seinem Haus erhalten würden. Als Ramesh im Juli 2011 bei einer Kabinettsumbildung aus dem Umweltressort abberufen und statt dessen als Minister für ländliche Entwicklung ernannt wurde, setzte das Big Business bereits zu Jubelgeschrei an. Doch auch Nachfolgerin Jayanthi hat sich entgegen manchen Erwartungen nicht zur Abnickmaschine degradieren lassen. Obgleich die frühere INC-Sprecherin weit weniger als ihr Vorgänger im Rampenlicht steht, hat sie doch die Linie genauer Antragsprüfungen beibehalten. Allein das Kohleministerium führt in seinem Jahresbericht 2011–2012 auf, daß für 179 neue Abbaugebiete die Genehmigung aus ihrem Haus noch ausstehe. Fast 29000 Hektar Waldgebiete, die zur Nutzungsumwidmung – also Abholzung – vorgesehen sind, haben zumindest eine Gnadenfrist erhalten, weil die Bearbeitung der Vorgänge noch läuft.

Nicht nur Medienvertretern wie im Falle von India Today sind solche Prüfungen ein Dorn im Auge. Verwiesen wird darauf, daß zwischen 2012 und 2017 umgerechnet eine Billion US-Dollar an Investitionen in die Infrastruktur geplant seien. Das Umweltministerium, so der Vorwurf, bremse Schnellstraßen oder einen Ausbau der so wichtigen Energieerzeugung. So hat die Ministerin u.a. alle 90 aktuellen Eisenerz-Förderlizenzen in Goa annulliert, weil sie auf Basis falscher Daten erteilt worden seien. Die betroffenen Firmen müssen nun neue Anträge einreichen. Im Fall von Mundra, dem von der Adani Group betriebenen größten Privathafen ¬Indiens, soll eine Untersuchungskommission unter Leitung der Ökoaktivistin Sunita Narain prüfen, welche Schäden dort durch vorfristigen Baubeginn entstanden sind.

Besonders angegriffen wird das neugeschaffene National Green Tribunal (NGT), ein Sondergericht für Umweltfragen. Dieses Gremium hat selbst dort Stoppschilder aufgestellt, wo das Ministerium selbst nach kleineren Abänderungen der Pläne sein grundsätzliches Okay gegeben hatte. Dies betrifft insbesondere das Stahlwerk, das der südkoreanische Posco-Konzern im östlichen Unionsstaat Odisha (Orissa) errichten will. Bei dem Milliardenprojekt handelt es sich um die größte Auslandsinvestition auf indischem Boden, die auch zum Jobmotor für die Region werden soll. Posco, so das NGT, hat aber ebenfalls mit falschen oder unvollständigen Zahlen gespielt, und das Ministerium müsse deshalb eine neue Überprüfung einleiten.

Während viele Inder aus der zahlenmäßig stark gewachsenen Mittelschicht dem Wachstumsmantra aus Wirtschafts- und Regierungskreisen ebenfalls das Wort reden, gibt es auch zahlreiche kritische Stimmen, die sich das Umweltministerium noch stärker, gründlicher und strenger wünschen. Denn in den wenigsten Fällen wurden bisher umstrittene Projekte völlig abgelehnt, der Ermessensspielraum im Endeffekt lediglich mit Auflagen doch noch zugunsten der Antragsteller genutzt. Die Suche nach Geschwindigkeit beim wirtschaftlichen Wachstum dürfe nicht zu Lasten der Demokratie gehen, warnte unlängst Shoma Chaudhury, Chefredakteurin des Wochenmagazins Tehelka. Es sei ein sehr gefährlicher Trend, wenn beispielsweise Finanzminister Pallaniappan Chidambaram die Schaffung eines National Investment Board (NIB) als Sondergremium fordere, das alle Projekte mit einem Volumen von mehr als zehn Milliarden Rupien (etwa 150 Millionen Euro) im Schnelldurchlauf abnicken soll. Nicht nur eine genaue Prüfung der Umweltbelange würde dabei auf der Strecke bleiben.

Shoma verweist zudem auf regionale Gesetze, die eine faktische Gründung von Privatmilizen zum Schutz industrieller Anlagen und Baustellen erlaubten und deren Mitglieder nicht einmal bei Verfehlungen juristisch zur Verantwortung gezogen werden dürften. Gerade in Odisha hat die Staatenregierung solcherlei durchgedrückt – der Unionsstaat, wo es die meisten Begehrlichkeiten zur Hebung von Bodenschätzen gibt.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 06. November 2012


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