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Indiens Latrinenarbeiter haben den Kanal voll

Bundesstaaten verweigern Umsetzung eines Gesetzes von 1993 / Proteste geplant

Von Jürgen Weber *

Ein Gesetz von 1993 verbietet in Indien die jahrhundertealte Praxis der manuellen Entleerung und Reinigung von sogenannten Trockentoiletten und fordert die Bundesstaatsregierungen dazu auf, alternative Tätigkeiten für die über eine Million Latrinenarbeiter bereitzustellen. Das Gesetz wird jedoch weitgehend ignoriert. Nun haben die Latrinernarbeiter ihre eigene Organisation gegründet und kündigen Streikmaßnahmen in sechs indischen Bundesstaaten an.

»In den Teekantinen gibt es extra Gläser für uns, die wir auch selbst abräumen und säubern müssen. Der Zutritt zu Tempeln wird uns verwehrt, die Wasserhähne der oberen Kasten dürfen wir nicht benutzen.« Latrinenarbeiter, die in Indien unter verschiedenen Kastennamen bekannt sind, gelten in der hinduistischen Kastenordnung als »unrein« und »schmutzig«. Die Tätigkeit der Leerung und Reinigung der Latrinen wird »ererbt« und sie ist nur für die Dalits (wie sich die ehemaligen »Unberührbarenkasten« selbst bezeichnen) vorgesehen.

Angaben über die Anzahl der Latrinenarbeiter in Indien sind nur schwer zu erhalten. »Es gibt keine seriösen Daten«, erläutert Bezwada Wilson, Leiter der nationalen Bewegung der Latrinenarbeiter »Safi Karmacharis Andolan/SKA«. »Nach unseren Schätzungen sind es etwa 1,3 Millionen Dalits, davon 80 Prozent Frauen.«

Traditionell im Auftrag der Gemeinden müssen sie die Plumpsklos (vorwiegend Trockenlatrinen) in öffentlichen Gebäuden und in den Häusern von Angehörigen der sogenannten höheren Kasten leeren und die menschlichen Exkremente entsorgen. Sie reinigen sowohl die offenen Toiletten in 30 000 indischen Eisenbahnwag-gons als auch die sanitären Einrichtungen der Armee. Pro Haushalt erhalten sie einen durchschnittlichen Lohn von fünf bis zehn Rupien, am Tag können bis zu zehn Häuser gereinigt werden. Ein Hungerlohn, wenn man bedenkt, dass 1 Euro derzeit 67 Indischen Rupien entspricht. Die städtischen Latrinenarbeiter verdienen je nach Bundesstaat zwischen 600 bis 2500 Rupien im Monat. Ein magerer Verdienst, der kaum für das Überlebensnotwendigste ausreicht.

Die Latrinenarbeiter in Indien sind zudem angehalten, jeglichen Dreck wegzuräumen, also auch die Exkremente an den Straßen- und Wegerändern und den freien Flächen, die mangels eigener Toiletten benutzt werden. Oft sind sie nur mit einer dünnen Pappe oder einem Blech und einem Eimer ausgestattet, in dem die Exkremente dann auf dem Kopf davon getragen werden. Werkzeuge oder Schutzkleidung zu tragen erlaubt das traditionelle Kastendenken nicht. Ihr Gesundheitszustand ist miserabel, sie sind jeder Art von Krankheitskeimen ausgesetzt, eine offene Wunde zu haben kann lebensgefährlich sein. Sie leiden oft an Durchfallerkrankungen. Bindehautentzündungen führen nicht selten zum Erblinden. In vielen Gemeinden wird -- oft nur gegen das Überlassen von Essensresten -- von ihnen erwartet, dass sie die Tierkadaver beseitigen und die Todesnachrichten überbringen, Tätigkeiten, die ebenfalls als »verunreinigend« betrachtet werden.

Nur rund 30 Prozent der indischen Bevölkerung haben überhaupt Zugang zu einem Toilettensystem mit Wasserspülung oder einem Anschluss an ein Kanalisationsnetz. Nach einem Bericht der Vereinten Nationen von 2001 liegt Indien damit hinter den Nachbarstaaten Sri Lanka (98 Prozent), Bangladesch (41 Prozent) und Pakistan (36 Prozent). Die Ursachen dafür sind auch in den tief verwurzelten Vorurteilen gegenüber den Dalit-Kastengruppen begründet. Gita Ramaswamy, Aktivistin und Autorin eines viel beachteten Buches über die Lage der LatrinenarbeiterInnen (India Stinking -- Manual Scavengers in Andhra Pradesh and Their Work), weist darauf hin, dass die Reinigung der Latrinen in Indien auch immer Sklavenarbeit gewesen ist. Mit der Ausdehnung von Trockentoiletten zu Beginn der Industrialisierung und Urbanisierung in Indien ab Mitte des 18. Jahrhunderts, wurden die landlosen Dalits auch für die als minderwertig angesehene Arbeit des Latrinenreinigens verpflichtet. Religiöse Gründe verhinderten, dass modernere sanitäre Anlagen eingeführt wurden. Seit 1993 ist in Indien die manuell vorgenommene Leerung und Reinigung der Trockentoiletten in öffentlichen Gebäuden oder Privathaushalten verboten und der Neubau von Trockentoiletten untersagt. Mit dem »Manual Scavenger and Construction of Dry Latrines (Prohibition) Act, 1993« werden die Bundesstaaten darüber hinaus verpflichtet, für die LatrinenarbeiterInnen Ausbildungsprogramme und finanzielle Kompensationen bereitzustellen. Beides wurde bis heute jedoch weitgehend ignoriert, obwohl im achten Fünfjahresplan (1992-1997) insgesamt 992 Millionen US Dollar für diese Zwecke ausgewiesen wurden. Ein Prüfbericht der Regierung von 2003 stellt klar, dass es keine Anzeichen dafür gibt, dass Rehabilitationsmaßnahmen angeboten wurden. »Wären die Regierung und die Zivilgesellschaft an der Lösung des Problems interessiert und wollten sie wirklich den Teufelskreis durchbrechen, dann würden sie Programme zur Zerstörung der Trockenlatrinen im Land auflegen. Das würde das Problem ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Dann könnte auch über ein nachhaltiges Programm wie die Verteilung von Ackerland an die Betroffenen nachgedacht werden«, so Gita Ramaswamy.

In den letzten Jahren wird unter Dalit-Organisationen der Aufbau von gewerkschaftlichen Strukturen für die LatrinenarbeiterInnen diskutiert. Bewegungen wie die SKA fordern das Ende der Praxis der manuellen Reinigung der Trockentoiletten bis zum Beginn der Commonwealth Spiele in Indien im Oktober 2010 und kündigen für diesen Herbst Streikaktionen in sechs indischen Bundesstaaten an. Die Latrinenarbeiter fordern für eine festgelegte Übergangszeit geregelte Arbeitsverhältnisse, Mindestlöhne und Arbeits- und Schutzkleidung. Neben dem Verdienstausfall will die SKA dann auch einen sechsmonatigen Ausbildungsgang in verschiedenen Kleingewerben anbieten. Damit soll demonstriert werden, dass auch Latrinenenarbeiter in der Lage sind, andere Tätigkeiten zu erlernen und dass sie seit 15 Jahren auf die Umsetzung der Gesetze warten.

* Aus: Neues Deutschland, 1. Juli 2008


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