Will Indien die Gunst der Stunde nutzen und den Anti-Terror-Trumpf ausspielen?
Es geht um Kaschmir und um die regionale Hegemonie
Unter dem Titel "Noch ein Krieg?" erschien im Freitag am 4. Januar 2002 ein Beitrag von dem Nahost- und Asienexperten Jochen Hippler, den wir im Folgenden gekürzt dokumentieren.
Von Jochen Hippler
Pakistan hat sich mit seiner Kaschmirpolitik in eine ähnliche Situation
gebracht wie zuvor in Afghanistan - zweifelhafte oder brutale
Organisationen zu unterstützen, die sich nicht kontrollieren lassen. Für
diese Fehler gibt es mindestens zwei Gründe: die - legitime - Sympathie
für die kaschmirischen Muslime, denen von Indien seit 1948 das
Selbstbestimmungsrecht vorenthalten wird. Zweitens die - idiotische -
Versuchung, dem übermächtigen Nachbarn Nadelstiche zu versetzen und
Schaden zuzufügen. Und drittens ließe sich noch die - naive - Hoffnung
nennen, das eigene Staatsgebiet um Kaschmir zu vergrößern. (Naiv auch
deshalb, weil dies die Rechnung ohne die Kaschmiri macht.) Pakistan ist
also nicht unschuldig, aber es hat keinerlei Interesse an Krieg: Den wird es
mit Sicherheit verlieren, und die pakistanischen Generäle wissen das
genau. ...
Aus indischer Sicht stellt sich dies anders dar. ... Unter dem
Deckmantel der internationalen Terrorkampagne soll das Kaschmirproblem
militärisch gelöst werden, ohne internationale Proteste befürchten zu
müssen. Zwar entspringt dieses Problem vor allem der indischen Politik
selbst, nämlich der Weigerung, die überwiegend muslimischen Kaschmiri
über ihr eigenes Schicksal bestimmen zu lassen, oder den massiven
Menschenrechtsverletzungen durch indische Truppen. Aber die Sorge,
durch eine Sezession Kaschmirs weitere Unabhängigkeitsbewegungen zu
ermutigen, führt zu einer Politik der harten Hand. Nun bietet sich die
Gelegenheit, Pakistan als Unterstützer der kaschmirischen Rebellen eine
Lektion zu erteilen ...
Die diplomatische Option zielt auch auf die Instrumentalisierung der USA
und anderer externer Akteure gegen Pakistan durch anti-terroristische
Rhetorik, die militärische auf die Tatsache, dass große Teile des
pakistanischen Militärs gegenwärtig an der afghanischen Grenze stationiert
sind. Indien braucht sich vor einem Krieg nicht zu fürchten, solange die
Eskalation unterhalb der Nuklearschwelle bleibt, da es ihn nur gewinnen
kann. Die Tatsache, dass der Truppenaufmarsch sich nicht auf die
abgelegene Hochgebirgsregion Kaschmirs beschränkt, sondern entlang der
gesamten, fast 3.000 Kilometer messenden Grenze (Punjab, Rajasthan
und Gujarat) erfolgt, deutet auch darauf hin, dass ein solcher Krieg eben
nicht allein um oder wegen Kaschmir geführt würde. Ein indischer Minister
formulierte das kürzlich so: "Wenn es Krieg geben sollte, dann wird seine
Intensität so groß, dass wir zukünftig keinen Krieg gegen Pakistan mehr
brauchen werden."
Das Säbelrasseln und die Kriegsvorbereitungen Indiens richten sich in
diesem Rahmen nicht allein auf die gewaltsame Lösung der
Kaschmirfrage, sondern auch auf die endgültige Durchsetzung seiner
regionalen Hegemonie. Delhi verfolgt Großmachtambitionen, spätestens
seit es 1974 seine erste Atombombe testete. Heute plant es den Bau
zweier Flugzeugträger. Den alten Gegner Pakistan in die Knie zu zwingen,
würde die außen- und militärpolitische Dominanz Indiens in der Region
endgültig durchsetzen - nur im Norden gibt es noch machtpolitische
Konkurrenz: die Volksrepublik China, die seit Jahrzehnten
freundschaftliche Beziehungen zu Pakistan unterhält. Und genau von dort
droht der einzige Unsicherheitsfaktor: China hat in den letzten Wochen im
Nordosten Indiens Dutzende von Grenzmarkierungen zerstört und ist bis zu
20 Kilometer tief über die umstrittene Grenzlinie vorgestoßen - ein dezenter
Hinweis darauf, dass Peking mit der indischen Politik unzufrieden ist. ...
Die indische Politik wird deshalb darauf zielen, den Konflikt einerseits unter
der Nuklearschwelle zu halten, zweitens China mit Vorsicht behandeln, um
es nicht in den Konflikt zu ziehen. Unterhalb dieser beiden Risikoebenen
scheint die Handlungsfähigkeit Delhis nur von einer politischen Spaltung
innerhalb der Regierung begrenzt. Während Ministerpräsident Vajpayee
eher auf einen diplomatischen Erfolg zu setzen scheint, drängen Hardliner
um seinen Innenminister Advani offen zum Krieg. Die Sorge wächst, dass
die Kriegsfraktion sich durchsetzen wird. Zu massiv sind die
Kriegsvorbereitungen, zu viele Truppen und Material bereits über große
Entfernungen aus dem Osten des Landes an die pakistanische Grenze
verlegt - was bisher erst zweimal geschah: 1965 und 1971, bei den beiden
schwersten Kriegen zwischen Indien und Pakistan.
Aus: Freitag 02, 4. Januar 2002
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