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Hilfen haben Indiens Bedürftige verfehlt

Nafisa D'Souza über die Missachtung der Ansprüche der indigenen Bevölkerung Indiens


Nafisa D'Souza ist Geschäftsführerin der Organisation Laya, die sich für die Rechte der indigenen Bevölkerung Indiens einsetzt. Als Gast diskutierte sie auf der Veranstaltung »Indien zwischen Wirtschaftsboom und Massenarmut« in Berlin über Herausforderungen der Entwicklungszusammenarbeit. Mit ihr sprach Antje Stiebitz.


ND: Sie sagen, dass die indische Regierung die Menschen, die eigentlich im Zentrum des wirtschaftlichen Wachstums stehen sollten, verfehlt. Was beobachtet Ihre Hilfsorganisation, das Laya Ressource Centre Visakhapatnam in Andhra Pradesh?

D'Souza: Wir können erkennen, dass die Früchte der Entwicklung die Gemeinschaften, mit denen wir arbeiten, nicht erreichen. Die Entwicklungsprogramme der Regierung helfen den Menschen nicht, aus der Armut herauszukommen. Es gibt gerade ein recht neues ländliches Arbeitsprogramm, das die Situation etwas verbessert. Doch wenn man sich die Interventionen der Regierung in der Vergangenheit ansieht, dann haben sie für die Menschen keine bessere Situation geschaffen. Stattdessen wird die indigene Bevölkerung durch wirtschaftliche Großprojekte aus ihrem Lebensraum vertrieben. Auf diese Weise entwurzelt, wandert sie auf der Suche nach einer Existenz von einer Region in die nächste. Die großen Investoren nehmen ihnen ihre Ressourcen - Land, Trinkwasser, Wald. Und der Klimawandel verschärft die Situation zusätzlich.

Welche Art des Herangehens stellen Sie sich stattdessen vor?

Man müsste die Fähigkeiten der Gemeinschaften verbessern, mit ihrer Umgebung umzugehen. Wir brauchen eine radikale Veränderung, indem wir den lokalen Gemeinschaften Ansprüche auf die Ressourcen gewähren, die sie seit Generationen hüten. Sie brauchen Nahrungssicherheit und eine Grundversorgung bezüglich Gesundheit, Infrastruktur, Bildung und Energie. Dafür müssten die Bedingungen geschaffen werden.

Was bedeutet für Sie eine Grundversorgung mit Bildung?

Die Dorfgemeinschaften, mit denen wir arbeiten, brauchen das Werkzeug, um ihr Leben effektiv zu gestalten. Sie müssen ihre eigene Realität besser verstehen. Es hat keinen Sinn, Menschen aus einem Dorf Wissen zu vermitteln, das weit über ihr Umfeld hinausgeht, wenn sie zugleich nichts über die Böden der eigenen Region und die Situation ihres Dorfes und ihres Distrikts wissen. In den Schulen der Stammesbevölkerung gibt es das Fach Landwirtschaft nicht. Sie lernen dort etwas, was nicht in Bezug zu ihrem Leben steht. Und wenn sie aus der Schule kommen, haben sie die Fähigkeit verloren, gute Farmer zu sein.

Wie sehen Sie die Bewegung der Naxaliten, die sich auch aus der indigenen Bevölkerung speist? »Produziert« die Regierung dieses Phänomen, indem sie die Bedürfnisse der Menschen ignoriert?

Nicht alle Naxaliten sind Terroristen. Natürlich finden sie mit ihrer Ideologie unter der jungen frustrierten Stammesbevölkerung Anhänger. Viele von ihnen kämpfen weniger aus ideologischen Gründen, sondern sie kämpfen um ihr Überleben. In manchen Regionen gibt es Beispiele, dass die Naxaliten gute Arbeit geleistet haben.

Warum halten Sie die Entwicklungszusammenarbeit zwischen Indien und Deutschland für wichtig?

Bei den Problemen handelt es sich vielfach um globale Angelegenheiten. Einen Paradigmenwechsel kann Indien nicht alleine bewerkstelligen. Beispielsweise sind unsere Unternehmen weltweit mit anderen Unternehmen verbunden. Die Frage des wirtschaftlichen Wachstums muss weltweit diskutiert werden. Insofern sind die nördlichen Regierungen von Fragen der Armut und Entwicklung genauso betroffen. Der Norden hat diese Situation mitverschuldet. Entwicklungszusammenarbeit ist wichtig, doch wir müssen genau überlegen, wohin sie uns führen soll. Die Frage ist, was wir als bedeutungsvolle Existenz verstehen. Die Mentalität des Konsums ist in Indien genauso ein Problem wie in den Ländern des Nordens.

* Aus: neues deutschland, 8. November 2011


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