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Liebesheirat als Schande

Indien: Nach plötzlichem Tod einer jungen Frau wird gegen ihre Familie ermittelt. Sie hatte kurz zuvor gegen deren Willen einen Mann aus einer anderen Kaste geheiratet

Von Thomas Berger *

Der mysteriöse Tod einer jungen Frau sorgt in Delhi seit Tagen für Schlagzeilen. Vieles deutet nach Angaben der Times of India, einer der großen englischsprachigen Zeitungen des Landes, auf einen »Ehrenmord« hin, weshalb die Polizei Ermittlungen gegen die Eltern und den Bruder der Toten aufgenommen hat. Daß der Fall für soviel Aufsehen sorgt, liegt vermutlich daran, daß der mutmaßliche Tatort sich ganz in der Nähe der indischen Hauptstadt, in Sahibabad, befindet. Monika Dagar, gerade einmal 21 Jahre alt, hatte gegen den Willen ihrer Eltern einen jungen Mann aus einer anderen Kaste geheiratet. Für viele Familien ist so etwas noch immer die größte vorstellbare Schande.

Am 2. Juli war Monika aus dem Wohnheim ausgezogen, in dem sie während ihres Studiums gelebt hatte, um drei Tage später dem 25jährigen Gaurav Saini in einem Tempel der Hauptstadt Delhi das Jawort zu geben. Gut zwei Jahre war es da her, daß sie den Computerspezialisten über das Internet kennengelernt und sich in ihn verliebt hatte. Doch da die Brautleute aus unterschiedlichen Kasten stammen, verweigerte Monikas Familie die Zustimmung zur Hochzeit. Sie mußte heimlich stattfinden. Doch das junge Eheglück währte nur eine Woche. Nachdem Monikas Bruder bereits am 6. Juli seine Schwester bei der Polizei als entführt gemeldet hatte, tauchten am 12. Juli Beamte vor der Wohnung Gauravs auf, wo beide nunmehr lebten. Obwohl die jungen Leute alle relevanten Dokumente vorlegten und Monika beteuerte, weder entführt noch vergewaltigt worden zu sein, wurde sie zu ihren Eltern gebracht. Ihr Mann mußte einen ganzen Monat im Gefängnis zubringen, erst am 11. August wurde er gegen Kaution entlassen.

Wie die Times of India am vergangenem Wochenende berichtete, soll Monika am 17. September gestorben sein. Nach Angaben der Eltern erlag sie einer »Lungeninfektion«. Eine postmortale ärztliche Untersuchung gab es nicht. Die Eltern stellten selbst einen Totenschein aus, der Leichnam wurde nach hinduistischem Ritus umgehend eingeäschert. Eine Autopsie ist somit nicht mehr möglich. Es ist fraglich, ob gegen die Angehörigen überhaupt Anklage erhoben werden kann. Aber selbst dann ist ein Freispruch aus Mangel an Beweisen im Grunde sicher. Die Polizei weist eine Mitschuld am tragischen Ausgang der Geschichte von sich. Eine Sprecherin der Sicherheitskräfte im Unionsstaat Uttar Pradesh – Monika und Gaurav stammen aus dem Umland Delhis –, sagte lediglich, das Gericht habe keine genauen Anweisungen an die Polizisten gegeben. Selbst nach indischen Gesetzen war Monika aber volljährig und hätte nicht gegen ihren Willen zu ihren Eltern gebracht werden dürfen. Gaurav Saini hat vor dem Obersten Gericht in Delhi Beschwerde gegen seine widerrechtliche Inhaftierung eingelegt. Am 7. Oktober sollten Monika und er dort in einer Anhörung aussagen.

Mehr als 95 Prozent aller Ehen in Indien werden noch immer von den Eltern arrangiert. Lediglich in den Städten geht es mittlerweile ein klein wenig liberaler zu. Für die Masse der jungen Leute bedeutet dies traditionsgemäß eine Heirat nicht nur innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft, sondern gerade bei Hindus auch noch in den Grenzen der eigenen Haupt- und Unterkaste. Verlieben sich Angehörige unterschiedlicher Kasten oder gar Glaubensbekenntnisse, bleibt in der Regel nur die Flucht mit der Hoffnung, nicht von den Verwandten aufgespürt zu werden. Geschieht dies doch, ist vor allem für die Frau das Risiko groß, wegen der »Schande«, die sie ihrer Familie bereitet hat, getötet zu werden. Daß die Polizei sich dabei zum Helfershelfer fanatischer Eltern und Brüder macht, ist keine Ausnahme.

* Aus: junge Welt, 9. Oktober 2009


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