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Gujarat im Fadenkreuz von Terroristen

Indien: 30 Tote nach Überfall auf Hindu-Tempel in Gandhinagar

Von Hilmar König, Neu Delhi
Nach Jammu und Kaschmir haben Terroristen nun auch das indische Bundesland Gujarat ins Fadenkreuz genommen. Am Dienstag richteten sie auf dem Gelände des Akshar-Dham-Tempels, ein architektonisches Prachtstück der Swaminarayan-Sekte, in Gandhinagar ein Blutbad unter den Hindu-Gläubigen an: 27 Tote und etwa 100 Verletzte waren zu beklagen.

Kommandos der Nationalen Sicherheitsgarde, die sogenannten Schwarzen Panther, brauchten mehr als acht Stunden, um die beiden mit mehreren Dutzend Handgranaten und automatischen AK-47-Gewehren bewaffneten Attentäter schließlich zu töten. Auch ein Sicherheitsbeamter kam bei der Aktion ums Leben.

Die Identität der Täter gab den Behörden Rätsel auf. Man fand zwei in Urdu verfaßte Schreiben einer bis dahin völlig unbekannten Gruppe namens Tehrik-e-Kasas. Sie will Rache für jene Ereignisse üben, die im Februar und März dem Brandanschlag auf den Sabarmati-Expreß bei Godhra folgten. Der angeblich von Moslems verübte Überfall auf den Zug, bei dem 58 Hindus ums Leben kamen, hatte in Gujarat Pogrome gegen die Moslems ausgelöst. Dabei wurden mindestens 1.000 Menschen getötet. Zehntausende verloren Hab und Gut und brachten sich in Flüchtlingslagern in Sicherheit. Damals hatte das politische Establishment unter Chefminister Narendra Modi nicht nur völlig versagt, sondern sogar durch scharfmacherische Äußerungen noch Öl ins Feuer gegossen. Das Resultat waren langanhaltende Unruhen und ein bis heute bestehendes tiefes Mißtrauen zwischen beiden Religionsgruppen.

Zum aktuellen Hintergrund gehört auch eine laufende Kampagne, die von Diskriminierung der moslemischen Minderheit geprägt wird. Modi reist seit zwei Wochen auf einer »Gaurav Jatra« (Tour des Stolzes) durch den westindischen Unionsstaat. Bei seinen Auftritten nannte er die Flüchtlingslager »babyproduzierende Zentren«. Man müsse den Insassen eine Lektion erteilen. Der radikale Politiker nutzte die Gaurav Jatra bislang, um den Keil noch tiefer zwischen Hindus und Moslems zu treiben und für die in den nächsten Monaten stattfindenden Wahlen Punkte unter der hinduistischen Mehrheit zu sammeln. Obwohl er ein gefährliches Spiel treibt, wird er von der Führung der Indischen Volkspartei (BJP) gedeckt und sogar als »bester Chefminister in Indien« gelobt.

Die Opposition spricht von einer Haß-Kampagne und fordert, Narendra Modi aus dem politischen Verkehr zu ziehen, weil er verfassungswidrig agiert und Indiens säkulare Strukturen untergräbt. Politiker aller Parteien erkannten diesmal sofort die von dem Überfall auf den Tempel ausgehende Gefahr, verurteilten das Massaker einhellig und riefen geschlossen zu Ruhe und Zurückhaltung auf.

Aus: junge Welt vom 26. September 2002


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