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"Das kann doch gar nicht sein"

Mit einem Projekt kämpft die GEW gegen Kinderarbeit in Indien

Von Antje Stiebitz *

Bildung ist ein Grundrecht für Kinder. Weltweit aber sind Millionen von Minderjährigen von diesem Grundrecht ausgeschlossen, weil sie arbeiten müssen, anstatt zur Schule gehen zu können.

Sanjey ist zehn Jahre alt. Der Junge klopft in einem zahlreicher indischer Exportsteinbrüche Pflastersteine. In Sandalen hockt er auf einem Steinhaufen. Beim Betrachten seiner geschundenen Hände denkt man unwillkürlich an die Hände eines 60-jährigen Bauarbeiters. Unübertroffen günstig finden die nach Maß gefertigten Steine auch in Deutschland Absatz. Für Sanjey bleiben ein Hungerlohn und eine Lebenserwartung um die 40 Jahre. Nur eine kurze Sequenz aus »Die Story: Kindersklaven«, einem 2008 erschienenen Dokumentarfilm der beiden WDR-Reporter Rebecca Gudisch und Tilo Gummel.

»Das kann doch nicht wahr sein!« sei sein erster Gedanke gewesen als er diesen Film sah, berichtet Ulf Rödde, Redaktionsleiter der GEW-Zeitung »E&W«. Die »Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft« verwandelte ihre Betroffenheit in Engagement und gründete im Frühjahr 2010 die Stiftung »Fair Childhood« mit dem erklärten Ziel, so viele Mädchen und Jungen wie möglich von den im Bundesstaat Andhra Pradesh ansässigen Baumwollfeldern zu holen und ihnen eine Schulbildung zu ermöglichen. Inzwischen hat die Stiftung in der indischen Hilfsorganisation »M.V.-Foundation« einen Kooperationspartner gefunden, und der Startschuss für das Vorhaben wird Anfang 2012 fallen. Über ihre Arbeit vor Ort berichteten die GEW und Venkat Reddy, Leiter der »M.V-Foundation«, kürzlich in Berlin.

Große internationale Konzerne sind es, die die arbeitsaufwendige Kreuzung der Baumwollpflanzen vornehmlich von Mädchen zwischen 6 und 14 Jahren durchführen lassen - den »Cotton-Seed-Girls«. Doch auch das Pflücken der Baumwolle gehört zu den Arbeiten der rund 160 000 Kinder, die auf den Baumwollfelder im Südosten Indiens schuften. Ihr Arbeitstag ist lang, Hitze und Pestizide ruinieren ihre Gesundheit und der Lohn liegt bei 50 Cent am Tag.

Venkat Reddy berichtet, wie seine Mitarbeiter vorgehen: Sie nehmen sich einen Bezirk vor und versuchen dort alle Kinder in einer sogenannten Brückenschule unterzubringen. Hier werden die Kinder, die bislang noch nie eine Schule von innen gesehen haben, auf das Lernen vorbereitet. Doch zunächst bedarf es der sozialen Mobilisierung. Eine ausgebildete Person, die zur Dorfgemeinschaft gehört, versucht, Unterstützung zu bekommen. Angestrebt wird, dass das Thema Kinderarbeit im Panchayat, einer Art Dorfrat, auf die Agenda kommt. »Doch das braucht Zeit, das geht nicht von einem Tag auf den anderen«, weiß der Aktivist. Seine Erfahrung zeigt allerdings, dass es nicht schwer ist, die Eltern zu überzeugen. Denn sie wünschen sich eine Ausbildung für ihre Kinder, oft wissen sie einfach nur nicht, wie sie das bewerkstelligen können. Auch die Kinder sind hungrig danach zu lernen. »Dieses Wissen muss von der Regierung umgesetzt werden«, fordert er.

In Andhra Pradesh ist das teilweise gelungen. Inzwischen baut auch die Regierung Brückenschulen und stellt Fonds zur Verfügung. Im Gegenzug gibt die »M.V.-Foundation« Trainingsprogramme für Regierungsbeamte. Sind diese ersten Schritte getan, kümmern sich die Aktivisten beispielsweise um den Bau der Schulküchen oder um Öffentlichkeitsarbeit. Gehen die Kinder erst einmal in die Schule, habe das den positiven Nebeneffekt, so Venkat Reddy, dass auch die Eltern mehr Arbeit haben. »Allerdings stellt sich dann die Frage nach einer angemessenen Bezahlung für sie.«

Die GEW stellt für das Projekt »Bildung statt Kinderarbeit« 15 000 Euro zu Verfügung. Dabei geht es zum einen um eine Unterstützung der Arbeit in Indien als auch um eine Kampagne gegen Kinderarbeit in Deutschland: Durch Aufklärung sollen »Kinderarbeitsfreie Zonen« geschaffen werden. Damit sich jeder einzelne Konsument bei seinem Einkauf bewusst gegen Produkte entscheiden kann, die durch Kinderhände produziert wurden.

Kinderarbeit ist kein indisches Phänomen, weltweit werden Kinder zur Arbeit gezwungen oder müssen einer Beschäftigung nachgehen, um mit dem Lohn zum Familieneinkommen beizutragen. Viele der Kinder verrichten - wie eingangs erwähnt - schwere Arbeit beispielsweise in Steinbrüchen oder Minen. Dass jedes Kind bis 2015 eine Grundbildung erhält, wie es die Vereinten Nationen durch ihre Millenniumsziele anstreben, ist eher unwahrscheinlich. Im Falle Indiens wäre es wichtig, in das Freihandelsabkommen mit der EU Sozialklauseln aufzunehmen. Doch da ist GEW-Referentin Constanze Beierlein skeptisch: »Das Thema Kinderarbeit wird nicht gerne aufgegriffen, da es Einschränkungen bedeutet. Und gerade in Krisenzeiten wird für Bildung und Entwicklungspolitik weniger Geld ausgegeben.«

Teufelskreis

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass weltweit 220 Millionen Kinder arbeiten. Genaue Zahlen sind schwer zu ermitteln, da viele der kleinen Müllsammler, Schuhputzer oder Haushaltshilfen niemals in einer Statistik auftauchen. UNICEF geht davon aus, dass rund acht Millionen Minderjährige gefährliche oder sehr schwere Arbeiten unter extremen Bedingungen ausüben, beispielsweise als Zwangsarbeiter oder Kindersoldaten. Mindestens eine Millionen Kinder sollen als Prostituierte missbraucht werden. Besonders hoch liegt die Anzahl der arbeitenden Kinder in Subsahara-Afrika, Asien und Südamerika.

Ursache für Kinderarbeit ist vor allem die Armut der Eltern. Ein Teufelskreis, denn Kinderarbeit führt zu einem erhöhten Angebot an billigen Arbeitskräften und somit zu niedrigeren Löhnen für die Eltern. Und da arbeitende Kinder meist vom Bildungsangebot ausgeschlossen sind, schicken auch sie später als Erwachsene ihre Kinder wiederum arbeiten. Weltweit besuchen rund 100 Millionen Kinder keine Schule, Grund hierfür ist meist Kinderarbeit.

Die meisten Hilfsorganisationen wollen Kinderarbeit nicht grundsätzlich verbieten, weil ein solches Verbot für viele Kinder zunächst Nachteile bringen würde. Oft geht es erst einmal darum, die Arbeitsbedingungen menschlicher zu gestalten. (AST)

www.fair-childhood.eu

* Aus: neues deutschland, 23. Dezember 2011


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