Indiens Regierung im Mehrfrontenkampf
Unbilden in Natur und Politik
Von Hilmar König, Delhi *
Christenverfolgung in Orissa. Aufruhr in Jammu und Kaschmir. Blockade der Arbeiten am Autowerk
im westbengalischen Singur. Überschwemmungen in Bihar. – Indiens Regierung muss an mehreren
Fronten gegen Unbilden der Natur und der Politik kämpfen. Am vergangenen Wochenende berieten
Staatspräsidentin Pratibha Patil und Premier Manmohan Singh die komplizierte Lage.
Seit über einer Woche machen radikale Hindus im ostindischen Orissa Jagd auf Angehörige der
christlichen Minderheit, überwiegend Ureinwohner (Adivasi) und Kastenlose. Nach offiziellen
Angaben kamen seit 23. August 14 Menschen ums Leben. Tausende flüchteten in die Wälder oder
in Lager. Überfallen wurden rund 40 Kirchen, andere christliche Einrichtungen, darunter
Waisenhäuser und Internate, aber auch Wohnhäuser. Asit Kumar Mohanty, Regionalkoordinator des
Globalen Rates Indischer Christen, bezifferte die Zahl der Toten sogar auf 30. Orissas Regierung
wies diese Angabe als übertrieben zurück, sah sich aber wegen ihrer Tatenlosigkeit geharnischten
Protesten in- und ausländischer Menschenrechtsorganisationen ausgesetzt.
Überall in Indien kam es zu Bekundungen der Solidarität mit den Opfern der Gewalt. Vor dem
»Orissa-Haus« in Delhi gab es einen Sitzstreik. Die Kongresspartei hatte in der Hauptstadt einen
Protestmarsch angeführt. Premier Singh nannte das blutige Geschehen in Orissa eine »nationale
Schande« und bot der Staatsregierung jegliche Hilfe zur Beruhigung der Lage an. Orissas
Chefminister Naveen Patnaik, der in einer Koalition mit der hindunationalistischen Indischen
Volkspartei (BJP) regiert, musste sich am Wochenende in Bhubaneshwar einer
Vertrauensabstimmung stellen. Er überstand sie zwar, doch sein Ansehen bleibt beschädigt.
Die Gewaltwelle war am 23. August im Distrikt Kandhamal ausgebrochen, nachdem der prominente
Hinduführer Swami Lakshmanananda Saraswati und vier Mitstreiter im Jalespata Ashram ermordet
worden waren. Der Swami, der Mitglied des ZK des fundamentalistischen Welthindurates (VHP) war,
führte seit langem einen Feldzug gegen Bekehrungen zum Christentum und galt als Einpeitscher
antichristlicher Kampagnen. Er beschuldigte immer wieder Missionare, einen Glaubenswechsel zu
»erzwingen«. Obwohl die Behörden die Mörder des Swami in den Kreisen von Naxaliten
(maoistische Untergrundkämpfer) vermuten, bliesen der VHP und die militante Gruppe Bajrang Dal
zum Sturm gegen die christliche Minderheit. Tagelang erwies sich die Polizei als unfähig oder
unwillig, dem rasenden Mob Einhalt zu gebieten.
Zur gleichen Zeit brodelte es trotz Ausnahmezustand und verstärktem Militäraufgebot im nördlichen
Unionsstaat Jammu und Kaschmir. Die Sezessionisten, die Unabhängigkeit oder Anschluss an
Pakistan verlangen, organisierten im Jhelum-Tal einen Generalstreik und mobilisierten
zehntausende muslimische Bewohner zu Demonstrationen. Bei Zusammenstößen mit den
Sicherheitskräften wurden mehr als 30 Bürger getötet. Im mehrheitlich hinduistischen Jammu kam
es zu Gegenaktionen, bei denen ebenfalls Menschenleben zu beklagen waren. Die Organisatoren
ließen zeitweilig die Nationalstraße von Jammu nach Srinagar sperren. Muslimrebellen gossen Öl
ins Feuer, als sie in Jammu eine Familie und deren Nachbarn als Geiseln nahmen. Bei deren
Befreiung kam es zu einem Blutbad. Momentan sondiert die Regierung, ob die seit langem geplante
Zulassung des Handels zwischen dem pakistanischen und dem indischen Teil Kaschmirs eine
Beruhigung der brisanten Lage zur Folge hätte.
In Westbengalen, wo eine Linkskoalition regiert, hat die oppositionelle Partei Trinamool Congress
(TC) ihren Widerstand gegen den Bau eines Tata-Autowerks in Singur verstärkt. Hier soll der
Billigkleinwagen »Nano« produziert werden. Das Großprojekt soll 12 000 Menschen eine
Beschäftigung sichern. Aber der Betrieb entsteht auf ehemaligem Agrarland, das nach Darstellung
des TC den Bauern »geraubt« worden sein soll. TC-Chefin Mamata Banerjee behauptet, die von ihr
inszenierte Straßen- und Werksblockade verlaufe völlig friedlich, ohne jeden Zwang. Doch 5000
Bauarbeiter wurden am Wochenende daran gehindert, das Betriebsgelände zu erreichen. Außerdem
stecken inzwischen hunderte Lastwagen fest. Die Tata-Konzernleitung hat bereits angedeutet, sie
werde sich aus Singur zurückziehen, wenn sich die Lage nicht normalisiert. Westbengalens
Chefminister Buddhadeb Bhattacharjee und indische Industrielle sehen das »globale Image« des
Landes wegen der Gewaltaktionen gefährdet und haben deshalb zum politischen Dialog aufgerufen.
Ganz anderer Art ist das Problem im Norden des Unionsstaates Bihar. Wegen des Bruchs von
Uferbefestigungen und Dämmen des Kosi-Flusses im Grenzgebiet zu Nepal sind riesige Landstriche
überschwemmt. 90 Menschen kamen seit Mitte voriger Woche ums Leben, 1,5 Millionen verloren
Haus und Hab und Gut. Angesichts anhaltender Niederschläge besteht die Gefahr, dass sich das
Katastrophengebiet ausdehnt. Innenministerium und Armee setzen Hubschrauber, Boote, Soldaten
und geschulte Nothelfer ein, um die Betroffenen wenigstens mit Nahrungsmitteln und Trinkwasser zu
versorgen.
* Aus: Neues Deutschland, 2. September 2008
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