Der Freihandel schafft Millionen von Verlierern
Indische Politologin warnt vor Vernichtung von Familienbetrieben
Von Jörn Hagenloch *
Mit der Forderung, gegen die Wirtschaftskrise mit dringend notwendigen ökologischen und sozialen
Maßnahmen vorzugehen, endete am Sonntag der vierte McPlanet.com-Kongress mit rund
1700Teilnehmern aus globalisierungskritischen Bewegungen, Umweltverbänden, Politik und Kirche.
Die indische Politologin Shefali Sharma präsentierte ihre Studie zu den sozialen Auswirkungen des
Freihandels.
Seit knapp zwei Jahren verhandeln die EU und Indien über ein Freihandelsabkommen. Es geht um
alle zentralen Wirtschaftssektoren, vom Industrie- und Dienstleistungssektor über den Einzelhandel
und die Landwirtschaft bis zum Schutz von geistigen Eigentumsrechten. Ebenso weit reichend sind
die Gefahren für Indien, vor denen die von WEED und dem Evangelischen Entwicklungsdienst in
Auftrag gegebene Studie warnt.
Im Gespräch mit ND beleuchtete die indische Politologin Shefali Sharma die derzeitigen
Verhandlungen vor dem Hintergrund der europäischen Außenhandelsstrategie »Global Europe«, die
von der EU-Kommission 2006 veröffentlicht wurde. »Das EU-Konzept setzt auf aggressive
Marktöffnungen in der ganzen Welt. Die Wettbewerbsfähigkeit Europas soll ausgebaut werden.
Dazu sollen europäische Konzerne frei auf anderen Märkten agieren und sich den Zugriff auf alle
nötigen Rohstoffe sichern können«, so die Politologin. Natürlich gilt das auch in umgekehrter
Richtung für indische Unternehmen auf dem EU-Markt. Doch es sind ungleiche Partner, die hier
verhandeln: Indien hat 1,1, Milliarden Bewohner, mehr als doppelt so viele wie die EU – und
erwirtschaftet dennoch nur etwas über sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU.
Am Beispiel Dienstleistungen macht die Politologin das Problem deutlich, dass Indien nur in zwei
Dienstleistungssparten global wettbewerbsfähig scheint: in der IT-Industrie und der Betreuung von
Geschäftsprozessen für ausländische Unternehmen. »Das sind die beiden Herzstücke der indischen
Interessen in Bezug auf Dienstleistungen. Das Verhandlungspaket umfasst aber auch so zentrale
Bereiche wie Energie, Wasser, Umwelt, Finanzdienstleistungen. Wenn wir den Dienstleistungssektor
öffnen, werden wir geschlachtet«, so Sharma. Aber auch weitere sensible Bereiche wie die
Landenteignung zum Zwecke der Ausbeutung von Rohstoffen oder die Öffnung der Fischereirechte
würden Indien schwer treffen und enthielten hohen sozialen Sprengstoff.
Ein deutscher Konzern ist seit einigen Jahren bereits im indischen Handelssektor aktiv: Metro.
Bislang arbeitet das Unternehmen im Großhandel, doch das Ziel sind ganz klar die Endverbraucher,
so Sharma: »Sollten Metro und andere europäische Handelskonzerne wie geplant auch im
Einzelhandel aktiv werden können, dann bedroht das ganz konkret die 12 Millionen
Familienbetriebe, von deren Existenz fast 100 Millionen Menschen abhängen.«
Warum angesichts dieser bedrohlichen Aussichten die indische Regierung überhaupt die
Verhandlungen führt? »Viele in der indischen Regierung teilen die neoliberalen Überzeugungen,
dass Indien seine Märkte öffnen sollte, um mehr Wettbewerb zuzulassen zur Überwindung von
Ineffizienz. Aber die Verhandlungen verlaufen stockend. Am Ende muss Indien noch einmal kritisch
bewerten, was es überhaupt bekommt, ob so ein Freihandelsabkommen überhaupt positiv wäre.«
Denn ein gravierendes Problem liegt gerade in der starren Fixierung: Wenn die Verträge
unterzeichnet sind, hat keine Regierung mehr die Möglichkeit einzugreifen. Die derzeitige
Finanzkrise beweise aber, dass Freihandelsabkommen den Staaten die Möglichkeit zur
makroökonomischen Planung nehmen, so Sharma: »Jetzt zeigt es sich uns allen doch ganz
deutlich: Wir können nicht alles vorhersehen und festschreiben. Regierungen brauchen immer die
Möglichkeit, mit politischen Mitteln flexibel auf neue Situationen reagieren zu können.«
* Aus: Neues Deutschland, 28. April 2009
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