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Eine Nation in Aufruhr

Die brutale Vergewaltigung einer 23-Jährigen empört Indien

Von Hilmar König *

24 206 Vergewaltigungen gab es im vergangenen Jahr laut offiziellen Angaben in Indien. Abgesehen davon, dass die Dunkelziffer erheblich höher liegen dürfte, hat keiner dieser Fälle die Öffentlichkeit derart empört wie das Verbrechen an einer 23-jährigen Medizinstudentin, die jüngst in Delhi Opfer eines besonders brutalen Überfalls wurde. Das Thema »Diskriminierung der Frau« drängte stürmisch wie selten in die öffentliche Debatte.

Ein Mitte Dezember an einer 23-Jährigen verübtes Gewaltverbrechen in der Hauptstadt Delhi versetzt Indiens Bevölkerung bis heute in Aufruhr. Spontan entstand eine Protestbewegung, die schließlich auch die Regierung zur Stellungnahme zwang. Gesetze zum Schutz und zur Sicherheit von Frauen sollen nun verschärft und die Täter zügig und hart bestraft werden. Doch das Grundproblem, wie die bereits im Mutterleib beginnende Diskriminierung des weiblichen Geschlechts überwunden werden kann, kommt in der hitzigen Debatte und den Protesten zu kurz.

Was war in den Abendstunden des 16. Dezember im Stadtteil Munirka geschehen? Ein junges Pärchen bestieg nach einem Kinobesuch einen Bus, der nur mit fünf Männern und dem Fahrer besetzt war. Angeblich waren sie angetrunken. Nach kurzen Pöbeleien und anzüglichen Bemerkungen gegenüber der Frau wurden die Täter handgreiflich, als der junge Mann seine Freundin verteidigen wollte. Sie schlugen ihn zusammen und attackierten dann die Frau. An der folgenden Vergewaltigung beteiligte sich auch der Fahrer. Anschließend malträtierten sie das Opfer und fügten ihm mit einer Eisenstange schwere innere Verletzungen zu. Nach 45 Minuten warfen sie das Pärchen aus dem fahrenden Bus.

Während sich ihr Freund von den weniger schweren Verletzungen schnell erholte, musste die 23-jährige Medizinstudentin auf der Intensivstation des Safdarjung-Hospitals behandelt, künstlich beatmet und dreimal notoperiert werden. Am Mittwoch erlitt sie einen Herzstillstand, wurde wiederbelebt und noch in der Nacht in das Mount-Elizabeth-Krankenhaus nach Singapur geflogen, das auf Organtransplantationen spezialisiert ist. In einer ersten Stellungnahme am Donnerstag hieß es dort, die Patientin befinde sich in einem »äußerst kritischen Zustand«.

In Delhi und anderen großen Städten gingen vor allem Frauen auf die Straße. »Indien wach auf!«, riefen sie. Und auf Plakaten stand zu lesen: »Genug ist genug« - »Das ist der Notstand« - »Todesstrafe für Vergewaltiger« - »Respektiert uns endlich« und »Wir wollen Gerechtigkeit«. Die Polizei arbeitete auf Hochtouren, bis die sechs Verdächtigen gefasst waren. Zwei bekannten sich umgehend zu dem Verbrechen und sagten laut Polizeiangaben, sie hätten es verdient, gehängt zu werden. Vor allem in Delhi schwoll der Protest um die Weihnachtstage herum jedoch ständig an, so dass es zu Zusammenstößen mit Sicherheitskräften kam, die mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken gegen die aufgebrachte Menge vorging. Dabei gab es über 140 Verletzte, ein Polizist kam ums Leben.

Am Sonntag war bereits bei einer ähnlichen Demonstration im nordöstlichen Manipur ein Reporter getötet worden. Dort war es ein sexueller Übergriff auf eine Schauspielerin, der die Proteste ausgelöst hatte. Durch den Fall in Delhi war die Empörung im Nordosten weiter gewachsen.

Um eine Eskalation zu unterbinden, wurden in den letzten Tagen rund um Delhis Innenstadt Straßen gesperrt und neun U-Bahnhöfe geschlossen. Doch die Demonstranten wichen auf andere Orte in der Stadt aus.

Die Regierung sah sich schließlich gezwungen, Stellung zu dem brutalen Verbrechen zu nehmen. Rund eine Woche hatte es gedauert, bis sich Premierminister Manmohan Singh zu einer Botschaft an die Nation durchgerungen hatte. »Als Vater dreier Töchter habe ich die gleichen Gefühle wie Sie«, wandte er sich an die Protestierenden. Es gebe »aufrichtige und berechtigte Wut und Angst wegen des grässlichen Vorfalls«. Zugleich rief Singh die Öffentlichkeit zu Ruhe und Besonnenheit auf. Die Chefministerin des Hauptstadtterritoriums, Sheila Dikshit, beriet sich mit dem Premier und Innenminister Sushil Shinde. Staatspräsident Pranab Mukherjee beklagte »negative Einstellungen« gegenüber Frauen. Auch er mahnte, Gewalt sei keine Lösung. »Der Ärger der Jugend sollte nicht den Verstand ausschalten«, sagte Mukherjee.

Die Opposition verlangt unterdessen die Einberufung eines Allparteientreffens, um Vergewaltigungen als verbreitetes soziales Übel zu debattieren. Eine Sonderkommission soll diesen besonders brutalen Fall untersuchen. Der Premier versprach am Donnerstag auf einem Meeting mit den Chefministern aller Unionsstaaten schärfere Gesetze zum Schutz von Frauen und einen zügigen Gerichtsprozess gegen die Täter. Und der Vater des Opfers rief im Fernsehen zu Gebeten für seine Tochter auf und bat die Demonstranten, friedlich zu bleiben.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 28. Dezember 2012

Heuchelei der Politiker

In Indien sind einem Bericht zufolge in den vergangenen fünf Jahren mindestens 20 mutmaßliche Vergewaltiger zu Wahlen angetreten. Seit 2007 hätten politische Parteien in den Unionsstaaten die Kandidatur von Männern zugelassen, denen Vergewaltigung vorgeworfen werde, beklagte der Gründer des Vereins für Demokratische Reform (ADR), Jagdeep Chhokar. Dies sei schockierend und erfordere dringende Maßnahmen.

Die Äußerungen führender Politiker zum jüngsten Vergewaltigungsfall nannte Chhokar daher heuchlerisch: »Die Politiker, die Vergewaltigung verurteilen, sind zugleich jene, die es offen wegen Vergewaltigung angeklagten Leuten erlauben, bei den Wahlen zu kandidieren. Das ist Heuchelei.«
Laut dem ADR-Bericht wird gegen die Betroffenen zwar wegen Vergewaltigung ermittelt, ein Prozess steht jedoch noch aus. Laut ADR stellten die Parteien darüber hinaus 260 weitere Männer auf, denen andere Taten gegen Frauen wie sexuelle Belästigung vorgeworfen wurden.
(AFP/nd)



"Ich bin die Stimme Indiens"

Gewalt gegen das weibliche Geschlecht - ein Problem der patriarchalischen Gesellschaft

Von Hilmar König **


Mehr Polizeipräsenz. Härtere Gesetze. Konsequentere Justiz. Todesstrafe. Kastrieren ... Das alles sind Forderungen der Protestierenden, die durchaus auch von Prominenten und Politikern Indiens vertreten werden.

Selten wird hinterfragt, auf welchem Boden so bestialische Verbrechen wie die Vergewaltigung der 23-Jährigen gedeihen. Anne F. Stenhammer, Vertreterin der UN-Frauenagentur in Südasien, sieht in dem gegenwärtigen Aufruhr den Rechten der Frauen zu wenig Beachtung geschenkt. Notwendig sei schon in der Grundschule beginnende Aufklärung. Zu selten noch sind Haltungen zu vernehmen wie die einer Studentin bei einem der Aufläufe in Delhi: »Ich bin die Stimme Indiens. Es geht nicht um e i n e Frau. Wir protestieren, um zu leben.« Möglicherweise meinte Premier Singh auch das, als er am Donnerstag im Zusammenhang mit Vergewaltigungen sagte, es gebe ein »Problem, das größere Aufmerksamkeit erfordert«. Diskriminierung schon im Mutterleib

Tatsächlich ist Gewalt gegen das weibliche Geschlecht eingebettet in die patriarchalische, noch immer von Kastendenken geprägte Gesellschaft. Wenn hier kein grundsätzlicher Wandel erfolgt, werden auch die schärfsten Gesetze nicht greifen. Diskriminierung und Gewalt in Indien beginnen bereits im Mutterleib. Die nahezu süchtige Bevorzugung männlicher Nachkommen führt dazu, dass weibliche Föten trotz gesetzlichen Verbots in etlichen Regionen nach wie vor massenhaft abgetrieben werden. Es folgen die Vernachlässigung von Mädchen bei Ernährung und Gesundheit, bei Schulbesuch und Berufsbildung. Und es folgen Kinderheiraten, 24 Millionen jährlich, um die »Last« so schnell wie möglich los zu werden. Verbreitet vor allem in ländlichen Gebieten bleibt die Auffassung, Aufgabe der Frau sei es, dem Mann zu dienen, Kinder zu gebären und das Haus in Ordnung zu halten. Sexuelle Aufklärung ist immer noch ein Tabu, auch in der Schule wird das Thema allenfalls verschämt und verblümt behandelt. 90 Prozent der Fälle in der Familie

90 Prozent aller Missbrauchsfälle, sagt die Statistik, passieren in der Familie. Vergewaltigungen sind aus Sicht indischer Männer eine Art Kavaliersdelikt. Richter zeigen sich nachsichtig, denn die oft jugendlichen Täter hätten doch »noch das ganze Leben vor sich«. Oder sie kommen aus »feinen« Familien, die ihren Sprössling freikaufen. Nur 26 Prozent aller Prozesse enden mit der Verurteilung der Sexualverbrecher. Oft verweigern oder verzögern Polizisten die Aufnahme von Anzeigen in Missbrauchsfällen. Nach Angaben der amtlichen Verbrechensstatistiker wurden 2011 allein in Delhi 572 Vergewaltigungen gemeldet. Die Dunkelziffer liegt weit höher, weil Opfer aus Scham, wegen der »Familienehre«, aus Angst vor den Tätern, deren Kaste, der Polizei und unsensiblen Behörden eine Anzeige scheuen. Am Mittwoch wurde der jüngste Fall aus Gujarat gemeldet: Ein zweieinhalbjähriges Mädchen starb an den Folgen des Missbrauchs durch einen entfernten Verwandten. Auch das eine »Stimme Indiens«.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 28. Dezember 2012


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