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Mordmotiv Mitgift

In Indien kommen nur noch neun Mädchen auf zehn Jungen. Ministerin sagt Frauendiskriminierung den Kampf an

Von Louise Buckow *

Indiens Staatsministerin für Frauen und Kinderentwicklung, Krishna Tirath, hat ihre Mitarbeiter angewiesen, das Gespräch mit den Frauen- und Menschenrechtsorganisationen des Landes zu suchen. Wie der Calcutta Telegraph in der vergangenen Woche schrieb, soll dadurch ein Gesetzesprojekt vorangetrieben werden, mit dem die sexuelle Belästigung von Frauen am Arbeitsplatz endlich unter Strafe gestellt wird. Bereits 1997 hatte der Oberste Gerichtshof entsprechende gesetzliche Regelung angemahnt. Die Verabschiedung eines seit zwei Jahren vorliegenden Gesetzentwurfes ist jedoch im behäbigen indischen Parlamentsbetrieb ins Stocken geraten. Die Ministerin hofft nun, durch die Wiederaufnahme der Konsultationen mit den Unterstützern des Vorhabens Druck aufbauen zu können, um die Annahme des Gesetzes zu beschleunigen.

Eine solche Rechtsnorm könnte ein wichtiger Fortschritt in Indien sein. Noch immer ist der gesellschaftliche Stand einer Frau in dem Riesenland hauptsächlich von der Zahl der geborenen Söhne abhängig. Eine Tochter zu bekommen gilt hingegen als eine Last, da später der Familie des Bräutigams eine hohe Mitgift bezahlt werden muß, um sie zu verheiraten. Oft übersteigen die Kosten das Jahreseinkommen der Familie. Eine zweite Tochter in der Familie bedeutet dann oft den finanziellen Ruin. Es ist auch üblich, daß nach der Heirat weitere Mitgiftzahlungen verlangt werden. Wenn diese nicht mehr geleistet werden können, fallen Frauen immer wieder inszenierten Unfällen zum Opfer. Jährlich verzeichnet das Innenministerium rund 7000 solcher Mitgiftmorde.

Aufgrund dieser Situation werden weibliche Föten oft abgetrieben. So kommen in Indien auf zehn Jungen nur noch neun Mädchen. Der Staat versucht, dieser für ihn dramatischen Entwicklung entgegenzuwirken, und die Geburtenrate der Mädchen zu erhöhen. Frauen werden in Krankenhäusern über ihre Rechte aufgeklärt, und das Geschlecht des Embryos wird bis zur Geburt nicht verraten.

Auch wenn nach dem Gesetz Frauen und Männer gleichgestellt und Mitgiftzahlungen seit 1961 verboten sind, sieht die Realität anders aus. Vor allem in den Dörfern sind das Kastenwesen und die teuren Hochzeitsgaben noch weit verbreitet. Traditionellen Vorstellungen zufolge soll der Mann für die Frau »gottgleich« sein. Sie darf ihn nie verlassen, er sie allerdings auf die Straße setzen. Wenn der Ehemann stirbt, hat die Frau ihm in den Tod zu folgen. Nicht selten treiben Ehestreitigkeiten Frauen in den Suizid, wie die Gesundheitsbehörde des Bundesstaats Kerala warnte. So waren in Kerala 75,2 Prozent der Frauen, die sich das Leben nahmen, verheiratet, 18 Prozent Singles und 6,8 Prozent verwitwet. Polizeiangaben zufolge hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren die Zahl der polizeilich gemeldeten Gewalttaten gegen Frauen in dem als relativ weit entwickelt geltenden Bundesstaat verdoppelt.

Die Soziologin Shyamala Nair betont gegenüber der Agentur IPS, den Frauen werde von klein auf eingeimpft, Männer seien ihnen überlegen: »Die Frauen sind konditioniert und nehmen ihre prügelnden Männer sogar in Schutz.« Gesetze zum Schutz der Frauen in die alltägliche Praxis umzusetzen, sei jedoch nur durch einen Bewußtseinswandel in der Öffentlichkeit und durch ein entschlossenes Eintreten der Frauenbewegung möglich.

Historisch kann sich diese Bewegung auf das Vorbild der Unabhängigkeitsbewegung gegen die britische Kolonialherrschaft berufen, in der es starke feministische Strömungen gab. Auch Staatsgründer Mahatma Gandhi setzte sich für die Befreiung der Frauen ein und lehnte die patriarchalische Vorherrschaft ab.

* Aus: junge Welt, 23. November 2009


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