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Verschwundene Töchter

Indien: Mädchen vom Land als Arbeitssklavinnen verschleppt

Von Ranjita Biswas, IPS *

Beinahe haben sie schon jede Hoffnung aufgegeben, ihre Mädchen wiederzusehen. Die Familie gehört zu den »Adivasi«, den ersten Bewohnern des heutigen Indiens, und lebt in einem Dorf im nordöstlichen Bundesstaat Assam an den Ausläufern des Himalajas. Drei der vier Töchter sind seit fünf Jahren verschwunden. »Die Eltern sind arm und ungebildet. Sie wissen nicht, was aus ihren Kindern geworden ist«, berichtet Sunita Changkakati, Direktorin des unabhängigen »Assam Centre for Rural Development« in Guwahati.

Die indigenen Adivasi wurden in der britischen Kolonialzeit als Arbeiter in den Teeplantagen von Assam rekrutiert. Noch heute gehören sie meist zu den Ärmsten der Armen – und geraten leicht in die Fänge von Menschenhändlern, die Späher in die ländlichen Gebiete entsenden, die sich nach geeigneten Opfern umsehen sollen. Häufig wird insbesondere jungen Frauen viel Geld und ein komfortables, interessantes Leben in der Stadt oder die Aussicht auf eine Heirat versprochen. Doch statt in den Flitterwochen finden sie sich häufig in Bordellen wieder.

Die indischen Medien haben in den vergangenen Jahren häufig über Mädchen aus dem Nordosten Indiens berichtet, die in Neu-Delhi, Mumbai, Pune und anderen Städten aus der sexuellen Versklavung befreit werden konnten. Wie die Behörde für Strafverfolgung des Bundesstaates Assam berichtete, ist die Zahl der von hier aus in andere Landesteile gelockten jungen Frauen von nur vier im Jahr 2005 auf 79 im vergangenen Jahr gestiegen. Die Dunkelziffer dürfte viel höher sein, denn viele Eltern bringen das Verschwinden ihrer Töchter nicht zur Anzeige.

Doch nicht alle Vermißten enden im Sexgewerbe. Viele Mädchen werden an wesentlich ältere Bauern in den weit entfernten Bundesstaaten Punjab und Haryana verheiratet. In den beiden nördlichen Unionsstaaten fehlt es an Frauen im heiratsfähigen Alter – eine Folge der verbreiteten Praxis, weibliche Föten abzutreiben beziehungsweise Mädchen gleich nach der Geburt zu töten. Deswegen kaufen sich viele Männer in den Dörfern über Mittelsmänner Bräute.

Andere Mädchen aus den ländlichen Regionen werden als Haushaltshilfen in die Großstädte gebracht. »Von wohlhabenden Familien eingestellt, werden sie häufig unterbezahlt und fast wie Sklavinnen gehalten«, berichtet der Adivasi Stephen Ekka von der Organisation »Pajhra« in Assam. Jeder, der gegen seinen Willen zum Arbeiten gezwungen werde, müsse als Opfer von Menschenhändlern betrachtet werden.

Auch Männer fallen Menschenhändlern zum Opfer. Rajeeb Kumar Sharma, Generalsekretär der »Global Organisation for Life Development« (GOLD) in Guwahati schildert den besonders schlimmen Fall eines Hausangestellten, der von einem Agenten in Neu-Delhi angeworben worden war. Als er eines Tages wegen Magenschmerzen in ein Krankenhaus kam, stellten die Ärzte fest, daß ihm ein Organ entfernt worden war – ohne Wissen des Opfers, wie sich herausstellte.

Armut und Arbeitslosigkeit sind die Hauptgründe, die die Menschen in Dörfern leicht zu Opfern von Menschenhändlern macht. Hinzu kommen der Mangel an sozialer Mobilität und Bildung sowie die Perspektivlosigkeit junger Leute. Die berühmten Teeplantagen in Assam stecken seit einigen Jahren in der Krise. Um Kosten einzusparen, beschäftigen Plantagenbesitzer oft nur noch Saisonkräfte, insbesondere in den Pflückperioden. Viele Mädchen müssen sich daher nach alternativen Einnahmequellen umsehen.

Selbst in den entlegensten Dörfern ist »Delhi« ein Zauberwort, von dem erhofft wird, daß es eine Tür zu unerhörtem Reichtum öffnet. Manchmal kommen Töchter aus der Hauptstadt zu Besuch in ihre Dörfer zurück, tragen schicke Kleider und prahlen damit, wieviel sie verdienen. Oftmals sind solche Auftritte nur ein Trick, um weitere Mädchen in die Stadt locken. Für viele endet das vermeintliche Abenteuer in einem Alptraum.

Aktivistinnen wie Sunita Changkakati bemühen sich seit Jahren, ein Bewußtsein für die Misere der jungen Frauen zu wecken. Sie helfen, Opfer aus ihrer Lage zu befreien und ihnen ein normales Leben zu ermöglichen. In Assam setzen sie ein Programm gegen Menschenhandel unter dem Namen »Ujjawala« um, das sich vor allem um Mädchen kümmert, die in die Prostitution geraten sind. Im vergangenen Jahr wurden 78 junge Frauen in sichere Unterkünfte gebracht.

acrdghy.org/ujjawala.htm

* Aus: junge Welt, Freitag, 3. Mai 2013


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