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Ohne Schleier an die Macht

In einem Dorf im patriarchalischen indischen Bundesstaat Rajasthan hat eine junge Frau die (Jeans-)Hosen an

Von Hilmar König, Soda *

Die Berichte über Vergewaltigungen in Indien reißen nicht ab. In den Medien finden sie erst seit der tödlichen Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Studentin im Dezember 2012 ausführlicher Raum. Aber ausgerechnet im patriarchalischen indischen Bundesstaat Rajasthan hat eine junge Frau das Sagen: die Dorfvorsteherin Chhavi Rajawat.

Unbarmherzig brennt die Sonne vom Himmel Rajasthans. 44 Grad zeigt das Thermometer im Schatten. In der Gluthitze des Vormittags schlagen Geeta und Ritu, Gulab Bano und Shanti Devi, Indra und Sita und Dutzende andere Frauen aus dem Dorf Soda die Spitzhacken in den knochenharten Boden. Ihre hellblauen, gelben, grünen, roten, orange- oder pinkfarbenen Saris bilden einen willkommenen Kontrast zu der eintönig hellgrauen Erde, die sie mit den Werkzeugen aufbrechen. Andere Frauen im Alter zwischen 18 und 65 schaufeln die Brocken in Blechschüsseln und heben sie den Kräftigsten unter ihnen auf den Kopf. Am Rande des »Feldes« wird die Last abgekippt.

Das »Feld« ist der Grund eines ausgetrockneten Sees, der wieder ein Trinkwasserreservoir für rund 10 000 Menschen werden soll. Im Schweiße ihres Angesichts schuften die Frauen hier – alle zehn Minuten vor Erschöpfung eine Pause machend – im Rahmen des Nationalen Beschäftigungsprogramms für die ländlichen Gebiete, das den Namen Mahatma Gandhis trägt. 2005 von der Regierung in Kraft gesetzt, soll es landesweit der Dorfbevölkerung ein Minimaleinkommen garantieren. Die 19-jährige Sanna lüftet den Schleier vor ihrem Gesicht und sagt: »Wir verdienen 100 bis 120 Rupien am Tag.« Umgerechnet sind das nicht einmal zwei Euro. Das sei besser als gar nichts, denn in Soda gebe es außer in der Landwirtschaft keinerlei Verdienstmöglichkeiten. »Und wir tun etwas Nützliches für die ganze Gemeinde«, erklärt sie.

Dass dieses Programm etwa 60 Kilometer südwestlich von der Wüstenmetropole Jaipur überhaupt in Angriff genommen wurde, verdanken die Einwohner ihrer »Baisa«. Das ist das Wort für Tochter, Schwester, Nichte. Gemeint ist die 33 Jahre alte Chhavi Rajawat, die Dorfvorsteherin. Sie verbrachte hier ihre Kindheit und kam nach ihrem Studium des Business Managements und guten Jobs in verschiedenen internationalen Firmen in Delhi vor drei Jahren überraschend zurück nach Soda – »zu ihren Wurzeln«, wie sie sagt. Rajawat fährt fort: »Ich bin ein Mädchen vom Lande, das die Chance hatte, in einigen der besten Bildungseinrichtungen Indiens zu studieren und das nur heimgekehrt ist, um für die Menschen hier zu arbeiten. So einfach ist das.«

Jedenfalls schien ihr das so. In Wirklichkeit war diese Heimkehr aus vielen Gründen ein sensationeller Vorgang, denn wer das triste Dorf im Distrikt Tonk – mit einer Analphabetenrate von 47 Prozent offiziell eine der »rückständigsten Gegenden Rajasthans« – verlassen hat, kommt gewöhnlich nicht mehr zurück.

Ein sensationeller Vorgang war auch, dass Chhavi Rajawat nicht in die hier übliche Rolle der Frauen schlüpfte, beispielsweise ihr Gesicht nicht verschleierte. Ganz im Gegenteil, sie erregte Aufsehen, als sie in Jeans, T-Shirt, mit Designer- Sonnenbrille und einem feschen Sommerhut aufkreuzte – und das inmitten der hier dominierenden Männergesellschaft. Selbst viele Frauen blickten anfangs erschrocken weg.

Überall in Indien werden Mädchen und Frauen diskriminiert und missachtet. Das beginnt bereits mit der Abtreibung weiblicher Föten, setzt sich in der Vernachlässigung der Mädchen in der Familie, bei Bildung und Gesundheit fort und gipfelt in massenhaften Vergewaltigungen und anderen sexuellen Übergriffen gegen Mädchen und Frauen.

Es kam noch sensationeller in Soda. Bei den Wahlen zum Dorfrat im Jahre 2010 wurde die »Baisa« als Kandidatin aufgestellt. Chhavi Rajawats Familie ist in Soda verwurzelt, ihr Großvater war 15 Jahre lang Dorfvorsteher gewesen. Die Älteren erinnerten sich, dass es unter seinem Zepter eine zwar bescheidene, aber doch positive Entwicklung gab. Nachdem er vor Jahren aus dem Amt geschieden war, verfiel der Ort in den alten Trott. Den Laden wieder flott zu machen, trauten sie nur ihrer »Baisa« zu. Sie sollte beweisen, dass sie ihr Collegewissen zum Wohle der Gemeinschaft anwenden kann. Den Segen der Dorfältesten hatte sie.

Chhavi Rajawat trat am 10. Feburar 2010 gegen zwei Mitbewerberinnen an. Über 3000 Dorfbewohner beteiligten sich an der Wahl. 80 Prozent der Stimmen aus den unterschiedlichsten Kasten und die der 300 Muslime entfielen auf sie. Im Rückblick schätzt sie ein: »Für mich gab’s da nicht viel zu überlegen, weil ich zu Soda gehöre und man mich hier braucht. Tatsächlich haben die Dörfler alle Barrieren von Kaste, Geschlecht und Religion überwunden, um meinen Sieg zu sichern. Sie wollen nur eins, wofür sie alle politisch geschaffenen Differenzen beiseite lassen: Es soll voran gehen. Meine Prioritäten sind Trinkwasser, verbesserte Bedingungen für Bildung und Gesundheit, Beschäftigungsmöglichkeiten, elektrischer Strom und ordentliche Straßen. Nur drei von 35 Kindern gehen hier nach der 5. Klasse weiter zur Schule. Von 1000 Häusern haben weniger als ein Prozent eine Toilette.«

Eine Woche nach der Wahl begannen die Erdarbeiten am ausgetrockneten See. »Deshalb haben wir die Baisa doch gewählt – wir trauten ihr zu, dass sie es anpackt «, sagt Bauer Sukh Dev. »Wir haben für das gesamte Dorf nur zwei Brunnen. Es musste endlich etwas geschehen.« Für Chhavi Rajawat war aller Anfang, abgesehen von der Fülle an Entwicklungsproblemen, tatsächlich unvorstellbar schwer. Schmunzelnd erzählt sie: »Unser Dorfrat hat zwölf Mitglieder, davon acht Frauen. Bei der ersten Sitzung war ich nur unter Männern. Wo waren die weiblichen Ratsmitglieder? Ihre Ehemänner, Brüder, Onkel waren als Vertretung gekommen.« Die junge Frau zeigte sofort, wer die Hosen anhat: »So geht das nicht! Alle Männer verlassen das Büro, nur die gewählten Ratsmitglieder bleiben. « Murrend verschwanden die ungeladenen Gäste. Bei der nächsten Sitzung waren die Frauen anwesend, aber es kam ein Anruf von einem Mann, seine Gattin sollte sofort nach Hause kommen, das Essen zubereiten.

Allmählich gewöhnte man sich an die neuen »Spielregeln«. Dazu gehört beispielsweise, dass alle mit anpacken. Die Dorfvorsteherin erläutert: »Sie erwarten von mir, dass ich Berge versetze. Langsam verstehen sie, dass das nur möglich wird, wenn alle die Ärmel hochkrempeln. Darauf warten, dass andere etwas für uns machen, funktioniert nicht.«

Neu sind auch Bürgersprechstunden, öffentliche Beratungen unter dem Neem-Baum in der Dorfmitte, Rechenschaftslegung und Transparenz seitens des Dorfrates. Das überzeugt und kommt gut an. Den ganzen bürokratischen Kram, Bankgeschäfte, das Betteln um Kredite, um Genehmigungen für Baumaschinen, Abrechnungen, das Eintreiben der Entlohnung für die Frauen auf dem »Feld« erledigt Chhavi Rajawat. Mit gewissem Stolz meint sie: »Das habe ich ja auch gelernt.«

Der Anfang ist gemacht: Inzwischen gibt es in Soda eine Filiale der State Bank of India. Die Stromversorgung verbesserte sich von vier Stunden am Tag vor 2010 auf jetzt zehn Stunden. Und ein Teil des Seereservoirs wird inzwischen als Trinkwasser genutzt. Die »Baisa« hat das Vertrauen gerechtfertigt und sie bleibt ihrem Motto treu: »Wohltätigkeit beginnt zu Hause – in Soda.«

* Aus: neues deutschland, Freitag, 08. März 2013


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