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Irom Sharmila und der Frauenkrieg

Im indischen Unionsstaat Manipur kämpfen Aktivistinnen für Frieden und Gerechtigkeit – mit unterschiedlichen Methoden

Von Stefan Mentschel, Delhi *

Seit der Unabhängigkeitserklärung Indiens sind im Nordosten des Landes separatistische Bewegungen und blutige ethnischr Konflikte im Gange . Allein in Manipur, das auf eine eigene 2000 Jahre zurückreichende Kultur- und Zivilisationsgeschichte blicken kann, zählen Experten heute fast 30 bewaffnete Gruppen. Gewalt und Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung – auch von Seiten der in der Region stationierten Sicherheitskräfte. Doch es gibt Widerstand, und vor allem Frauen treten für ein friedliches Miteinander ein.

In einem der größten Krankenhäuser Delhis herrscht rege Betriebsamkeit. Wie jeden Tag warten vor den Gebäuden und in den Gängen der renommierten medizinischen Einrichtung Hunderte Patienten darauf, zu einem Arzt vorgelassen zu werden. Was kaum jemand von ihnen wahrnimmt: Nur ein paar Meter entfernt, im privaten Teil der Klinik, abgeschirmt von der Öffentlichkeit, protestiert eine junge Frau aus dem über 2000 Kilometer entfernten Manipur mit einem Hungerstreik gegen die anhaltende Gewalt in ihrer Heimat.

Irom Sharmila kämpft gegen den Armed Forces Special Powers Act (AFSPA), der seit September 1980 in Kraft ist. Nach Ansicht von Amnesty International verstößt das umstrittene Sonderermächtigungsgesetz gegen internationale Standards, denn Armee und Paramilitär werden in dem kleinen, nur 2,3 Millionen Einwohner zählenden Unionsstaat im Nordosten faktisch unbeschränkte Machtbefugnisse eingeräumt. So können Sicherheitskräfte Festnahmen ohne Haftbefehl vornehmen. Zudem haben sie das Recht, Verdächtige zu töten. Konsequenzen müssen sie nicht befürchten. AFSPA gewährt ihnen Schutz vor Strafverfolgung. Zahlreiche schwere Zwischenfälle der letzten Jahre blieben ungesühnt.

Ein solches Massaker war Auslöser für Sharmilas Hungerstreik. Am 2. November 2000 explodierte in der Gemeinde Malom, wenige Kilometer südlich der Hauptstadt Imphal, eine mutmaßlich von Rebellen platzierte Bombe. Um Augenblicke verfehlte sie ihr Ziel – einen Konvoi der Assam Rifles, eines dem Innenministerium unterstehenden paramilitärischen Verbandes. An einer Bushaltestelle stoppte der Konvoi. Zwei dort wartende junge Männer, 17 und 19 Jahre alt, wurden nach Augenzeugenberichten von den Soldaten eingekreist und geschlagen. Als Dorfbewohner und Passanten eingreifen wollten, eskalierte die Situation. Die Assam Rifles eröffneten das Feuer und töteten zehn Menschen. Heute erinnert ein Mahnmal an die Opfer.

Hundert Jahre Frauenbewegung

»Ich konnte es nicht mehr ertragen«, erinnert sich Sharmila. »Ich wollte etwas gegen diese Ungerechtigkeit tun.« Am 5. November, drei Tage nach Beginn ihres Hungerstreiks, wurde sie wegen »versuchten Selbstmords« zum ersten Mal verhaftet und in Imphal unter Arrest gestellt. Dort begann man auch, die heute 34-Jährige durch eine Magensonde zu ernähren. Vor wenigen Wochen nutzten Menschenrechtler einen kurzen juristischen Freiraum, um Sharmila in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in die indische Hauptstadt zu bringen. »Sechs Jahre lang hat die Politik nicht auf ihren Hungerstreik reagiert«, erklärt Babloo Loitongbam von der Organisation Human Rights Alert die Motive. »Deshalb haben wir uns entschlossen, den Protest nach Delhi zu tragen.« Nach nur einem Tag in Freiheit wurde sie erneut verhaftet.

Seitdem wird Sharmila immer mehr zu einer Ikone des Widerstands. In ihrer Heimat allerdings stößt diese Entwicklung nicht nur auf Zustimmung. »Wir lieben sie wie unsere Tochter«, sagt Ima Ramani, eine der führenden Frauenaktivistinnen Manipurs (Ima bedeutet »Mutter« und wird in Manipur auch als Höflichkeitsform verwendet, um ältere Frauen anzusprechen). »Doch es ist nicht gut, wenn sich die Aufmerksamkeit auf eine einzige Person konzentriert. Wir brauchen eine wirkliche Massenbewegung.« Die 70-Jährige weiß, wovon sie spricht, denn seit Jahrzehnten engagiert sie sich als Meira Peibi – als Fackelträgerin – für Frieden und Gerechtigkeit.

Die Geschichte von Manipurs Frauenbewegung geht noch weiter zurück. 1904 – 13 Jahre nachdem die Briten das bis dahin unabhängige Königreich unter ihre Kontrolle gebracht hatten – protestierten erstmals Frauen gegen die von den Kolonialisten eingeführte Zwangsarbeit. Hunderte stellten sich den Soldaten entgegen und verhinderten so, dass ihre Männer zur Arbeit herangezogen werden konnten. Dieser Nupi Lan (Frauenkrieg) führte noch im selben Jahr zur Abschaffung des Zwangsdienstes. Doch die Hoffnung auf wirtschaftliche und politische Reformen blieb unerfüllt. Als im Jahr 1939 unkontrollierte Reisexporte aus dem fruchtbaren Manipur für eine extreme Nahrungsmittelknappheit sorgten, gingen erneut Frauen auf die Straße. Dieser zweite Nupi Lan brachte zwar keine unmittelbare Verbesserung der Situation, bereitete aber den Boden für die Bewegungen der Zukunft.

Die Meira Peibi sind eine davon. »An einem kalten Dezembermorgen 1980 hörten wir, dass Lourembam Ibomcha verhaftet worden war«, erinnert sich Ima Ramani. »Da wir von der Unschuld des Jungen überzeugt waren, mobilisierten wir 100 Frauen und forderten vor der Kaserne seine Freilassung.« Nach ein paar Stunden ließen die Soldaten Ibomcha tatsächlich frei. »Doch er war gezeichnet von schweren Misshandlungen und kaum bei Bewusstsein.« Dieses Ereignis wenige Wochen nach Inkrafttreten des AFSPA war Auslöser für eine bis dahin beispiellose Bewegung. Angeführt von Ima Ramani und anderen Aktivistinnen patrouillierten von nun an Nacht für Nacht Frauen durch Imphal und andere Gemeinden Manipurs. Ausgerüstet mit Meiras (Fackeln), die der Bewegung ihren Namen gaben, erleuchteten sie die Straßen und stellten sich wie im ersten Nupi Lan den Sicherheitskräften entgegen, um die Verhaftung Unschuldiger zu verhindern. Im Laufe der Jahre schlossen sich immer mehr Frauen an und machten die Meira Peibi zu einem wichtigen Teil des friedlichen zivilen Widerstands im Nordosten. Gleichwohl blieben Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Die Patrouillen der Meira Peibi gehören bis heute zum nächtlichen Straßenbild in Manipur.

»Soldaten, vergewaltigt uns!«

Am 15. Juli 2004 brachten die Meira Peibi durch eine spektakuläre Aktion den Konflikt in Manipur schlagartig zurück ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit. Nackt protestierten zwölf von ihnen vor dem Hauptquartier der Assam Rifles gegen den gewaltsamen Tod der 32-jährigen Thangjam Manorama Devi. Auf ihren Plakaten war unter anderem »Indian Army Rape Us!« (Soldaten, vergewaltigt uns) zu lesen. Denn die wenige Tage zuvor gefundene Leiche wies Berichten zufolge auch Spuren sexueller Gewalt auf. Für die Tat verantwortlich gemacht wurden Sicherheitskräfte, die die junge Frau kurz zuvor festgenommen hatten. Nach den Gründen für diese Form des Protestes gefragt, antwortet Ima Ramani mit den Worten einer ihrer Mitstreiterinnen: »Wir alle sind Manoramas Mütter.«

Zwar wurden die Verantwortlichen der Tat bis heute nicht zur Rechenschaft gezogen. Doch das Ereignis löste eine heftige Debatte über die Notwendigkeit des AFSPA aus. Im November 2004 beauftragte Premier Manmohan Singh eine hochrangig besetzte Kommission, die genau das untersuchen sollte. Nach nur einem halben Jahr legten die Experten ihre Ergebnisse vor, die jedoch bis vor kurzem unter Verschluss blieben. Erst die Ankunft Sharmilas in Delhi und das zunehmende Medieninteresse brachten den Bericht zurück ins Gedächtnis der Öffentlichkeit. Unter der Überschrift »Offizielles Gremium fordert Aufhebung des Armed Forces Act« veröffentlichte die Tageszeitung »The Hindu« als erste die Ergebnisse. »Ich werde meinen Hungerstreik erst beenden, wenn die Regierung das Gesetz vollständig zurücknimmt«, sagt Sharmila. »Das ist kein persönlicher, sondern ein Kampf im Namen meines Volkes. Er ist ein Symbol für Wahrheit, Liebe und Frieden.« Dass ihr Hungerstreik inzwischen auch im Ausland zur Kenntnis genommen wird, weiß Sharmila. 2005 war sie eine von 1000 Aktivistinnen aus 150 Ländern, die im Rahmen der Initiative »FriedensFrauen weltweit« für den Friedensnobelpreis nominiert wurden.

* Aus: Neues Deutschland, 22. Januar 2007


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