Privilegierte und Unterprivilegierte
Nach dem Formel-1-Zirkus herrscht wieder Alltag in Indien
Von Hilmar König *
Der Staub, den der Formel-1-Zirkus
bei seiner Premiere am Sonntag in
Indien aufwirbelte, hat sich gelegt.
Am Montag (31. Okt.) widmete die »Times of
India« dem Motorsportereignis
fünf Seiten und die Schlagzeile
»Die Welt toastet Indien zu«. Genau
das war der Tenor aller Medien.
Sie bedienten die Erwartungen
der indischen Elite, der Mittelklasse
und der rund 40 Millionen Autobesitzer
Indiens. Ihnen war der
»Grand Prix« vor den Toren Delhis
als Indiens entscheidender Schritt
zur Supermacht suggeriert worden.
So jubelte der Chef des Bauund
Immobilienkonzerns Jaypee,
Indien sei »im 21. Jahrhundert als
Macht angekommen, die man
ernst nehmen muss«.
Die Medien lobten das Privatunternehmen,
das die 450 Millionen
Dollar teure Rennstrecke aufs
Ackerland gestampft hatte. Es habe
ohne Steuergelder den Ruf wieder
hergestellt, der bei den Commonwealthspielen
2010 durch
Unvermögen und Korruptionsskandale
der staatlichen Behörden
und Veranstalter beschädigt worden
war. Zwei Stunden lang sei
550 Millionen Fernsehzuschauern
in rund 200 Ländern demonstriert
worden, wozu die größte Demokratie
der Welt fähig ist.
Die Elite feierte sich und rührte
die Trommel des Nationalstolzes.
Werbeagenturen nutzten die
Chance zu einem von einheimischen
und ausländischen Fahrzeugfirmen
bezahlten Generalangriff
auf potenzielle Autokäufer.
Schließlich zeigten sich auch die
Politiker und kochten ihr eigenes
Süppchen mit Slogans wie »Geschwindigkeit
ist Fortschritt«.
Die vollen Tribünen täuschten
darüber hinweg, dass der Rennzirkus
für die Masse des indischen
Volkes ein Nichtereignis war.
Wenn rund 800 Millionen Inder,
die an oder unterhalb der Armutsgrenze
leben, überhaupt etwas mit
Autos zu tun haben, dann durch
die ständig steigenden Preise, die
sie für Busse, Taxen oder Motorrikschas
zahlen müssen. Sie werden
geplagt von Inflation, Arbeitsund
Obdachlosigkeit, von Unterernährung,
mangelnden oder unbezahlbaren
Bildungsmöglichkeiten,
hoher Kindersterblichkeit und unzureichender,
oft unerschwinglicher
Gesundheitsbetreuung.
Indiens »Schnapsbaron« Vijay
Mallya, der nicht nur den Formel-
1-Rennstall »Force India« besitzt,
sondern auch eine Fluggesellschaft
und eine international zusammengewürfelte
Kricket-Mannschaft,
entgegnete Kritikern: »In
jedem Land gibt es Privilegierte
und Unterprivilegierte. In unserem
Land haben wir auch Unterprivilegierte.
Aber das heißt nicht, dass
man uns gering schätzen sollte.
Indien ist ein progressives Land.
Wir haben eine stark wachsende
Wirtschaft. Die Regierung unternimmt
alles, um den Bedürfnissen
der Armen oder Unterprivilegierten
zu entsprechen. Doch Indien
muss voranschreiten.«
Während Sebastian Vettel nach
dem Sieg in Indien die Begeisterung
der Leute großartig nannte,
äußerte der britische Fahrer Jenson
Button: »Man kann die Armut
nicht übersehen. Beim ersten Besuch
begreifst du schon, dass es
eine große Kluft zwischen reichen
und armen Leuten gibt.« Die
jüngste globale Reichtumsanalyse
konstatierte, dass Indien mit drei
Millionen reichen Haushalten unter
den ersten fünf Staaten der
Welt rangiert, vor fast allen europäischen,
Deutschland und
Frankreich eingeschlossen. Als
reich wurde definiert, wer über eine
Million Dollar investierbares
Kapital verfügt. Unter denen war
die Begeisterung für die Formel-1-
Premiere in Indien wohl auch am
stärksten.
* Aus: neues deutschland, 2. November 2011
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