Notdurft auf dem Feld
Auf dem indischen Land gibt es mehr Telefone als Toiletten. Regierung wirbt für sanitäre Anlagen
Von Hilmar König *
Im März machte Anita Bai Narre, eine Indigene aus Mittelindien, landesweit Schlagzeilen, als sie frischvermählt das Haus ihres Mannes verließ, weil es dort keine Toilette gab. Erst als diese installiert wurde, kehrte sie zurück. Staatspräsidentin Pratibha Patil ehrte daraufhin die junge Frau in Neu-Delhi mit der Auszeichnung »Nirmal Gram Puraskar«.
Was für ausländische Ohren merkwürdig klingt, hat in Indien einen ernsten Hintergrund. So unterstrich der Minister für ländliche Entwicklung, Jairam Ramesh, bei einer Reise durch den Bundesstaat Maharashtra die Notwendigkeit, sanitäre Anlagen zu bauen. Die Region gilt als Vorreiter, denn hier sind von den insgesamt 27900 Dörfern inzwischen 9000 von der immer noch verbreiteten Gewohnheit befreit worden, die Notdurft irgendwo im Freien zu verrichten. Den Status »open defecation free« haben nur 25000 aller 2,5 Millionen Dörfer Indiens. Minister Ramesh verwies während seiner Tour darauf, daß das kürzlich vorgelegte Budget der indischen Regierung eine Steigerung der Ausgaben für die Einrichtung von Sanitäranlagen und für die Versorgung mit Trinkwasser um 40 Prozent enthält.
Der Kommissar der Volkszählungsbehörde, C. Chandramouli, gab im März neue Ergebnisse des Zensus 2011 bekannt, die sich vor allem auf die 246,6 Millionen indischen Haushalte beziehen. Das Problem der Sanitäranlagen wird darin in aller Schärfe beleuchtet: Nur knapp 47 Prozent der Haushalte verfügen über eine Toilette. Etwas mehr als drei Prozent benutzen öffentliche Toiletten und knapp die Hälfte entleert sich unter freiem Himmel auf Feldern, an Bahndämmen oder Stränden, in Straßengräben, auf Baustellen, in Parks oder Wäldern. Chamoli erklärte dazu vor der Presse: »Kulturelle und traditionelle Gründe sowie der Mangel an Bildung scheinen die Hauptgründe für diese unhygienischen Praktiken zu sein.«
In krassem Gegensatz dazu steht beispielsweise, daß 63,2 Prozent der Haushalte einen Telefonanschluß besitzen, 53,2 Prozent über Handy erreichbar sind. Die von Minister Ramesh angesprochene Versorgung mit Trinkwasser kann dagegen nur für 32 Prozent der Haushalte gewährleistet werden. In den ländlichen Gebieten sind die Wege zu Brunnen oder offenen Wasserreservoirs im Durchschnitt länger als einen halben Kilometer. In den städtischen Slums gibt es oft nur einen Wasserhahn für tausende Bewohner.
Zwei Drittel aller Haushalte verwenden noch immer Feuerholz, Ernteabfälle, getrocknete Kuhfladen oder Kohle zum heizen und kochen. Die Frauen sitzen bei der Essenszubereitung dicht vor der Kochstelle und ziehen sich durch die Rauchentwicklung chronische Atemwegserkrankungen zu. Immerhin stieg die Nutzung von Elektroenergie im Haushalt von 56 Prozent vor zehn Jahren auf jetzt 67 Prozent. Freilich schränkt die unstabile Stromversorgung mit stundenlangen Abschaltungen in Stadt und Land die Nutzung dieser Energiequelle erheblich ein.
Überraschend brachte die Volkszählung ein soziales Phänomen ans Licht. Bislang galt die mehrere Generationen einschließende indische Großfamilie als gesellschaftliche Norm. Sie konnte soziale Härten und Schwierigkeiten ausgleichen und besser abfedern. Doch jetzt zeigt sich, daß bereits 70 Prozent aller Familien nur noch aus einem Ehepaar mit in der Regel mehreren Kindern bestehen. Die Zeitung The Hindu bezeichnete das als »dramatische Veränderung im Verlaufe von gerade mal einer Generation«.
* Aus: junge Welt, Montag, 16. April 2012
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