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Schulessen mit tödlichen Folgen

In Indien starben 23 Schüler binnen einer Woche an Lebensmittelvergiftung

Von Hilmar König, Delhi *

Eines der größten und bedeutendsten Wohltätigkeitsprogramme Indiens – das »Mid-day meal« (Mittagessen an Schulen) – ist durch mehrere verheerende Vorkommnisse der letzten Tage in Kritik geraten. Besonders hart traf es eine Vor- und Grundschule im Bundesstaat Bihar, wo am Dienstag vor einer Woche 23 Kinder starben.

Die Tragödie ereignete sich in der Ortschaft Gandaman. Nach dem unentgeltlichen Mittagessen – Reis und Linsen, Sojagemüse und Kartoffeln – zeigten 50 Kinder im Alter zwischen drei und zwölf Jahren Symptome einer schweren Lebensmittelvergiftung. Untersuchungen ergaben, dass im verwendeten Speiseöl eine hochgiftige organische Phosphorsubstanz (Monocrotophos) in hoher Dosis enthalten war. Sie steht in vielen Ländern auf dem Index, wird in Indien jedoch noch als Pestizid in der Landwirtschaft verwendet. Wie dieses Mittel in das Öl gelangte, konnte bislang nicht aufgeklärt werden. Bihars Bildungsminister machte zunächst eine »politische Verschwörung« hinter dem Vorfall aus. Anhaltspunkte dafür gab er bis jetzt allerdings nicht. Die Schuldirektorin tauchte mit ihrer Familie sofort ab. Ihr wird Vernachlässigung ihrer Kontrollpflicht vorgeworfen. Sie hätte das Essen vor der Ausgabe kosten müssen. Einwände der Köchin und der Kinder, das Essen am Unglückstag würde »komisch« schmecken, tat sie als Nörgelei ab.

Die Menschen in Gandaman reagierten mit Protest auf den Tod der 23 Kinder: Über 3000 Menschen gingen auf die Straßen, warfen Steine und zündeten Polizeiautos an. Ihre Sprösslinge wollen sie nun lieber zum Viehhüten als zum Unterricht schicken. Ajay Kumar, ein Landarbeiter, dessen Tochter starb, sagte Reportern: »Warum sollte ich meine jüngere Tochter zur Schule schicken? Damit sie auch stirbt? Wir lassen sie zu Hause. Sie wird so aufwachsen und überleben wie wir.«

Ein weiterer Fall wurde zwei Tage später aus dem südindischen Neyveli bekannt. Nach dem Schulessen klagten 170 Schüler über Unwohlsein. Sie wurden umgehend zur Behandlung und weiteren Beobachtung in Krankenhäuser gebracht. Die Ärzte diagnostizierten ein nicht lebensbedrohliches »Nahrungsintoleranzsyndrom«. Von einem dritten Fall berichtete die Nachrichtenagentur PTI: Am Freitag erkrankten im Dorf Usgao in Goa nach dem Mid-day meal 20 Schüler der St. Joseph High School. Goas Bildungsbehörden stellten einen »klaren Fall von Lebensmittelvergiftung« fest.

Auch wenn aus Neyveli und Usgao keine Todesnachrichten kamen, zeigte sich das Ministerium für die Entwicklung menschlicher Ressourcen (HRD) in Delhi alarmiert. Es beschloss die Bildung eines neuen 20-köpfigen Komitees zur Überwachung des Schulessens. Ob es diese Mammutaufgabe wirklich bewältigen kann, ist fraglich. Das staatlich geförderte Schulessen-Programm erfasst landesweit in 1,2 Millionen Schulen rund 120 Millionen Kinder aus vorwiegend bedürftigen Familien. Viele schicken ihre Kinder nur zum Unterricht, damit sie – kostenlos – wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag bekommen. Zudem bietet das Projekt hunderttausenden Frauen einen Job. Und, so betonen die Medien, es trägt dazu bei, Kastenbarrieren zu überwinden, weil alle Teilnehmer gemeinsam essen.

Doch der schreckliche Vorfall in Bihar bietet Anlass zu Kritik am »Mid-day meal«. Die Nichtregierungsorganisation JOSH lobte in einem Zeitungsbericht die Idee des kostenlosen Mittagessens. Die Wirklichkeit sei aber »erschreckend«. Im Schuljahr 2012/13 haben nur 50 von 288 Essensproben einen Qualitätstest bestanden. 83 Prozent erreichten den vorgeschriebenen Gehalt an Proteinen und Kalorien nicht. Und das sagt noch nichts über die hygienischen Bedingungen bei der Zubereitung und Verteilung der Mahlzeiten.

* Aus: neues deutschland, Dienstag. 23. Juli 2013


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