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Indien und Pakistan vor einem neuen Krieg?

Nach dem Terroranschlag auf das Parlament nehmen die Spannungen täglich zu

Seit dem Terrorüberfall auf das indische Parlament am 13. Dezember 2001 nehmen die Spannungen zwischen Indien und Pakistan ständig zu. Indien beschuldigt den Nachbarstaat, mit den Attentätern gemeinsame Sache zu machen bzw. die Täter zu decken. Die Attantate selbst werden islamistischen Kaschmir-Kämpfern angelastet, die im pakistanisch-indischen Grenzgebiet operieren und den Anschluss der zu Indien gehörenden Kaschmir-Provinz an Pakistan betreiben. Im Folgenden dokumentieren wir einen Hintergrundbericht vom 21. Dezember 2001 sowie Agenturmeldungen vom 23. und 24. Dezember.

Advani und der Terror

Indiens radikaler Innenminister nutzt Spannungen mit Pakistan für eigene Zwecke

Von Thomas Berger


Lal Krishna Advani ist ein Mann, der sich in Geduld zu üben versteht. Der im Hintergrund seine Fäden spinnt und den Tag vorbereitet, an dem er ins Rampenlicht treten kann. Dieser Tag scheint für den indischen Innenminister nun bevorzustehen. Die neuerlichen Spannungen zwischen Indien und Pakistan liefern ihm die beste Vorlage. Indien droht dem pakistanischen Militärmachthaber Pervez Musharraf mit »Säuberungsaktionen« in den Rückzugsgebieten der kaschmirischen Separatisten, die je nach Frontseite als Freiheitskämpfer oder schlicht Terroristen gesehen werden. Pakistan wiederum verstärkt seine Truppen an der Grenze und der Waffenstillstandslinie im geteilten Kaschmir. Ein Fünkchen genügt, um die kurze Lunte am Pulverfaß erneut in Brand zu setzen, so wie es 1999 beim begrenzten Kampf in der Kargil-Region der südwestlichen Himalayaausläufer schon einmal geschah. Doch gab es damals noch keinen neuen Krieg zwischen Indien und Pakistan.

All das ist Advani bewußt. Auch, daß beide Staaten nunmehr offiziell Nuklearmächte sind und mit einer erneuten Eskalation des Konfliktes mehr als eine auf Südasien begrenzte Schlacht droht. Doch Advani spielt mit dem Feuer. Der Innenminister der Zentralregierung gilt als Wortführer der indischen Hardliner, als Repräsentant der hindufundamentalistischen Kräfte im Kabinett von Premier Atal Behari Vajpayee. Als dessen getreuer Gefolgsmann hatte sich Advani in den letzten Jahren öffentlich präsentiert. Obwohl in Indien durchaus bekannt ist, welche Rivalitäten es zwischen dem in der größten Koalitionspartei Bharatiya Janata Party (BJP) als liberal geltenden Regierungschef und dem radikaleren Innenminister und Exparteichef Advani gibt, ließen sich die beiden seit der Machtübernahme 1998 und erneut ein Jahr darauf nicht trennen.

Das hielt Advani allerdings nicht davon ab, weiter an seinem eigenen Aufstieg und der Sicherung seiner Position zu stricken. Ein bißchen mochte ihn da auch wurmen, daß Vajpayee es bislang stets vermieden hat, ihn als seinen Nachfolger offiziell zu benennen. Obwohl Advani weithin als Nummer zwei in der Regierung gilt und zumindest von der BJP auch fast einstimmig als politischer Erbe des gealterten und gesundheitlich angeschlagenen Premiers gehandelt wird. Advani will gerüstet sein für den Augenblick, da ein neuer Mann an der Kabinettsspitze gesucht wird. Und das könnte in Krisenzeiten schnell der Fall sein.

Äußere und innere Sicherheit sind für Indien nicht erst seit dem 11. September und dem Anschlag auf das Parlament in Delhi in der vergangenen Woche ein Kernthema. Diese Frage schweißt die indische Nation zusammen und spaltet zugleich. Kommunisten ebenso wie Expremier Inder Kumar Gujral mahnen zu Besonnenheit. Doch bis weit hinein ins links-liberale Lager ist man in Delhi auch immer versucht, gegenüber Pakistan Stärke zu demonstrieren und auf erneute Terrorvorfälle in Kaschmir oder andernorts mit Härte zu reagieren.

Während die verschärften Gesetze, die den Aktionsradius der Sicherheitskräfte ausdehnen, vor allem gegen vermeintliche Terroristen unter den kaschmirisch-islamischen Gruppen und maoistische Rebellen in einigen Unionsstaaten gerichtet sind, werden sie gegen hindufundamentalistische Gewalttäter kaum zum Einsatz kommen. Nicht verwunderlich, war doch Advani am 6. Dezember 1992 selbst unter jenen führenden Politikern, die im nordindischen Ayodhya vor einer aufgebrachten Hindu-Menge sprachen, die kurz darauf eine alte Moschee stürmte und zerstörte.

Kürzlich jährte sich zum neunten Mal die Tragödie von Ayodhya, wo inzwischen kaum noch Muslime leben und das statt dessen von frommen Hindus bevölkert ist, die dort an historisch-heiliger Stätte einen Tempel zu Ehren des Halbgottes Ram errichten wollen. Ebenso wie der Anschlag auf das indische Parlament hat dieser Jahrestag die Emotionen zwischen den beiden großen religiösen Gruppen im Land (83 Prozent Hindus, elf Prozent Muslime) wieder hochkochen lassen. Es gab Übergriffe auf Muslime in mehreren Gebieten, selbst das südindische Kerala wurde von den schlimmsten Unruhen dieser Art in der jüngeren Vergangenheit erschüttert. Die radikalen Hindus sind auf dem Vormarsch, und Advani, einer ihrer geistigen Führer, wartet nur darauf, recht bald in den Premierssessel aufrücken zu dürfen. Nicht zuletzt war er es, dem beim indo-pakistanischen Gipfeltreffen im Sommer das Scheitern einer Vereinbarung zwischen Vajpayee und Musharraf mit in die Schuhe geschoben wurde. Nicht ganz zu Unrecht, denn der Innenminister hatte es gegenüber dem pakistanischen Staatsgast nicht nur an Freundlichkeit fehlen lassen, sondern ihn zu mehreren Gelegenheiten regelrecht brüskiert. Seither sind sämtliche Anläufe für eine Neuaufnahme des Dialogs gescheitert.

Aus: junge welt, 21. Dezember 2001

Agenturmeldungen vom 22. bis 24. Dezember 2001

Pakistanische Einheiten erschossen am 23. Dezember in Kaschmir zwei Soldaten eines indischen Grenztrupps. Auf pakistanischer Seite wurden zwei Zivilisten durch indisches Mörserfeuer getötet. Nach indischer Darstellung waren die Grenzsoldaten südlich von Jammu bei einer Routinepatrouille unter Beschuss genommen worden und hätten das Feuer erwidert. Ein pakistanischer Behördensprecher in Muzaffarabad sagte dagegen, indische Truppen zielten mit Mörsern und Granaten auf die Zivilbevölkerung.

Ein pakistanischer Offizier sagte am 22. Dezember in Islamabad, indische Infanterie-Einheiten und Panzer seien "in massiver Zahl" an die Grenze verlegt worden. Pakistan werde "die notwendigen Gegenmaßnahmen" ergreifen. Indiens Regierung gab am 23. Dezember bekannt, dass als Reaktion auf eine pakistanische Mobilmachung Armeeverbände in Punjab und Rajastan näher an die Grenze verlegt wurden. Der indische Verteidigungsminister George Fernandes sagte laut der Nachrichtenagentur PTI, die Entwicklung sei an einem Punkt angelangt, an dem Neu-Delhi reagieren müsse.

Bereits am 21. und 22. Dezember wurden bei Anschlägen mutmaßlicher Moslemrebellen sowie bei einer Armee-Aktion im indischen Teil Kaschmirs mindestens sieben Menschen getötet. Am 22. Dezember war es nach einer Meldung der Nachrichtenagentur UNI an 44 Grenzposten zu Schusswechseln gekommen. Ferner töteten indische Soldaten am 23. Dezember in Bandipora, 75 Kilometer nördlich von Srinagar, zwei mutmassliche islamische Extremisten. Bei beiden handle es sich um pakistanische Staatsbürger und Mitglieder der Rebellengruppe Lashkar-e Tayyaba, sagte ein indischer Armeesprecher. Verteidigungsminister George Fernandes erklärte, es seien Truppen näher zur Grenze verlegt worden. Auch auf der pakistanischen Seite der Grenze wurden Truppenverschiebungen beobachtet. Das pakistanische Außenministerium beschuldigte Indien in einer Erklärung, den Botschaftsangestellten Mohammed Sharif Khan am Samstag in Delhi entführt und fünf Stunden lang gefoltert zu haben. Dabei sei Khan nackt ausgezogen und schwer geschlagen worden.

Die pakistanischen Behörden in Kaschmir wurden am Wochenende angewiesen, sich auf den Kriegszustand vorzubereiten. Alle Luftwaffenstützpunkte seien alarmiert, sagte der stellvertretende Generalstabschef Syed Qaiser Hussain der pakistanischen Nachrichtenagentur APP. Sollte Indien angreifen, seien alle Streitkräfte zur Verteidigung bereit.

Der pakistanische Militärmachthaber Pervez Musharraf sagte bei einem Besuch in China, Neu-Delhis Entscheidung, seinen Botschafter aus dem Nachbarland abzuziehen, sei eine "sehr arrogante und absehbare Reaktion". Am Sonntag beschuldigte Pakistan Indien zudem, einen seiner Botschaftsangehörigen in Neu-Delhi entführt und gefoltert zu haben.

Derweil erklärte der indische Innenminister Lal Krishna Advani in einem Interview, Pakistan habe den "Preis zahlen" müssen, weil es nicht entschlossen gegen militante Rebellen vorgehe. Bei seiner Reise in die USA wolle er Washington im Januar auffordern, Pakistan zu einem "terroristischen Staat" zu erklären.

Sowohl US-Präsident George W. Bush als auch das Moskauer Außenministerium warnten vor einer weiteren Eskalation im indisch-pakistanischen Konflikt.

Quellen: Neue Zürcher Zeitung, Frankfurter Rundschau, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung


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