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Indiens säkulare Demokratie ist in Gefahr

Überfälle auf die christliche Minderheit weiten sich aus

Von Hilmar König, Delhi *

Während sich in Indien terroristische Anschläge häufen und die Polizei ausschließlich unter der muslimischen Minderheit nach Verdächtigen sucht, nehmen Überfälle hinduistischer Fundamentalisten gegen die christliche Minderheit zu.

Es begann vor Monaten im Distrikt Kandhamal des ostindischen Unionsstaates Orissa mit Attacken gegen Kirchen und christliche Einrichtungen, gegen Priester und Nonnen, gegen kastenlose Dalits und indigene Adivasi, die zur christlichen Minderheit gehören. Die Täter waren schnell identifiziert, wenn auch nicht gleich in Gewahrsam genommen: Aktivisten der militanten Hinduorganisation Bajrang Dal und des fundamentalistischen Welthindurates (VHP). Zum Vorwand für ihr Wüten nahmen sie die Ermordung des VHP-Führers Swami Lakshmanananda Saraswati und vier seiner Gefolgsleute. Eine maoistische Splittergruppe bekannte sich zwar zu dem Verbrechen, doch Bajrang Dal und VHP nahmen die wehrlosen Christen aufs Korn, denen sie vorwarfen, Hindus durch »Betrug und Gewalt« zum Glaubenswechsel zu zwingen.

Im Kandhamal-Distrikt, so schätzte der Erzbischof von Cuttack/Bhubaneswar, Raphael Cheenath, am Montag ein, ist die Lage noch immer nicht unter Kontrolle. Aus dem örtlichen Badasalunki-Fluss waren am Sonntag drei Leichen geborgen worden, die man als Christen identifizierte, und erneut gingen 40 Häuser in Flammen auf.

Inzwischen hat sich die »Christenverfolgung« fast zu einem Flächenbrand ausgedehnt. Dem schlimmen Beispiel Orissas folgten, wenn auch nicht in diesem Ausmaß, Karnataka, Madhya Pradesh, Tamil Nadu, Kerala, Andhra Pradesh, Chattisgarh und Jharkhand. 4000 Attacken wurden bislang registriert, denen mehr als 50 Menschen zum Opfer fielen. Geistliche wurden verprügelt, Nonnen vergewaltigt, 143 Kirchen, über 4000 Häuser in mehr als 300 Dörfern zerstört. 50 000 Menschen wurden zur Flucht gezwungen und leben in Notlagern.

Die Asiatische Menschenrechtskommission schätzt ein, dass es sich durchaus nicht, wie anfangs dargestellt, um sporadische Aktionen gehandelt habe. Vielmehr gingen und gehen die Täter systematisch, nach präziser Planung und nicht selten mit dem stillen Einverständnis der Behörden vor.

In Orissa und Karnataka, wo die hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) regiert oder in einer Koalition mitregiert, bedurfte es einer dreimaligen Ermahnung seitens der Zentralregierung, ehe die dortigen Chefminister die Polizei zu energischerem Durchgreifen veranlassten.

Die Kongresspartei, die linken und einige andere Parteien sehen die Überfälle der Hindu-Fanatiker vor dem Hintergrund der kommenden Parlamentswahlen. Sie sind sich sicher, dass die BJP mit diesem Kurs die Hindumehrheit beeinflussen und die in der Verfassung verankerten säkularen Strukturen aufweichen will. Immerhin fällt in diesem Zusammenhang auf, dass nicht ein einziger BJPSpitzenpolitiker die Jagd auf Christen verurteilte. Sozialaktivisten verweisen darauf, dass durch das Wirken christlicher Bildungs- und Sozialeinrichtungen das Leben Millionen armer und rechtloser Inder verbessert wurde, was offensichtlich nicht ins Konzept der Fundamentalisten passt.

Immerhin hat eine Reihe von Politikern den Ernst der Lage erkannt. Der frühere Premier Deve Gowda, Chef der Partei Janata Dal (Secular), fordert ebenso wie Ram Vilas Paswan, Minister für Chemie und Stahl, das Verbot der Bajrang Dal und des VHP, weil diese Hass, Zwietracht und Feindschaft verbreiten und sich terroristischer Mittel bedienen.

Mit Nachdruck warnte Finanzminister Chidambaram kürzlich vor einer »Entfremdung der muslimischen und seit kurzem der christlichen Gemeinschaft. Die Spaltung zwischen Muslimen und Hindus nehme gefährliche Formen an, sagte er und nannte Ghettoisierung, sozialen Boykott, Diskriminierung bei der Beschäftigung sowie ein Verwischen der Linien zwischen Staat und Religion, wie in Gujarat bereits geschehen. »Aus Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung in der Muslimgemeinschaft – und wenn in christlichen Stammesgemeinschaften nicht entschlossen gegengesteuert wird – werden neue Wellen des Terrors entstehen«, sagte der Minister. Die linksliberale Zeitung »The Hindu« schlussfolgerte dieser Tage, dass Indiens Größe und Nationalstolz vor allem auf seiner säkularen Demokratie beruhten. Diese gelte es mit allen Mitteln gegen Terroristen, Fundamentalisten und Fanatiker jeder Couleur zu verteidigen, wenn Indien als Einheitsstaat überleben will.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Oktober 2008


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