"Auf dem Rücken der Bauern"
Indiens Sonderwirtschaftszonen stoßen auf vielfachen Widerstand
Von Stefan Mentschel, Delhi *
Die indische Regierung hat begonnen, Sonderwirtschaftszonen im Land einzurichten. Rund 400
sollen in den kommenden Jahren entstehen, von denen man sich Wachstum und neue Arbeitsplätze
verspricht. Doch gleichzeitig werden fruchtbares Ackerland und damit die Lebensgrundlage
Hunderttausender vernichtet. Nur ein Grund, weshalb sich seit Monaten
Widerstand gegen die Pläne regt.
Die Bilder des indischen Fernsehens schockierten das Land. Mitte März stürmten schwer bewaffnete
Polizeieinheiten die 120 Kilometer südlich von Kolkata (Kalkutta) gelegene Gemeinde Nandigram. Wochenlang hatten deren Bewohner gegen die Einrichtung einer 8000 Hektar großen Sonderwirtschaftszone protestiert, in der ein indonesisches Unternehmen eine Chemiefabrik
errichten wollte. Kritisiert wurde das Vorhaben der kommunistischen Landesregierung, weil die
Landenteignungen die Existenz tausender Kleinbauernfamilien und Tagelöhner bedrohten, denn
weder Entschädigung noch Umsiedlung waren geklärt. Die Einwohner riegelten daraufhin das
Gebiet von der Außenwelt ab. Als Nandigram schließlich von den Sicherheitskräften
»zurückerobert« wurde, starben 14 Menschen, über 70 wurden verletzt.
Auch andernorts gab es Tote. Im Unionsstaat Orissa plante eine südkoreanische Firma, ein
Stahlwerk mit einer Kapazität von 12 Millionen Tonnen aus dem Boden zu stampfen. Doch die
betroffenen Adivasi – Angehörige der indischen Ursprungsbevölkerung – wehrten sich gegen die
Vertreibung von ihrem Land. Die Staatsmacht reagierte mit Gewalt: Im Januar 2006 wurden 13
Adivasi bei Auseinandersetzungen mit der Polizei erschossen.
Zwei Beispiele, die zeigen, welches Konfliktpotenzial in dem Vorhaben der indischen Regierung
steckt, landesweit rund 400 Special Economic Zones (SEZ) genannte Sonderwirtschaftszonen
einzurichten. Bekannt wurde das Projekt im Jahr 2005, nachdem das Parlament ein entsprechendes
Gesetz – den Special Economic Zones Act – auf den Weg gebracht hatte. Vor allem im
Wirtschaftsministerium ist man nach wie vor voller Begeisterung. »Es gibt keinen besseren Weg, um
die Industrialisierung Indiens voranzutreiben und um Arbeitsplätze zu schaffen«, sagt der zuständige
Minister Kamal Nath. Seine Experten wollen errechnet haben, dass bis 2009 umgerechnet 10
Milliarden Euro in den Zonen investiert und insgesamt fast eine Million neue Arbeitsplätze entstehen
werden.
Die in- und ausländischen Unternehmen, die das leisten sollen, werden mit lukrativen
Vergünstigungen gelockt. So zahlen sie in den ersten fünf Jahren keinerlei Steuern, danach für
weitere fünf Jahre nur die Hälfte. Zudem werden die in Indien so berüchtigten bürokratischen Hürden
abgebaut, Einfuhrzölle für Rohstoffe abgeschafft sowie erstklassige Infrastruktur,
Verkehrsanbindung und Stromversorgung garantiert.
»Das ist ein komplett verrücktes Gesetz«, klagt Bharat Dogra, Journalist und einer der schärfsten
Kritiker der SEZ im ND-Gespräch. »Es verstößt gegen den Grundgedanken unserer Verfassung,
denn eine Minderheit wird gegenüber der Bevölkerungsmehrheit bevorzugt.« Ein Beispiel sind die
Steuergeschenke. Selbst Finanzministerium und Zentralbank haben erhebliche Bedenken
angemeldet, denn sie fürchten Einnahmeausfälle in Milliardenhöhe. »Die SEZ sind Präsente an die
Industrie, die sich die Regierung eigentlich nicht leisten kann«, bemerkt sogar der Chefökonom des
Internationalen Währungsfonds, Raghuran Rajan. Noch allerdings haben die Wirtschaftsliberalen
das Sagen, die nur die Erfolgsgeschichten aus China und Südostasien vor Augen haben und von
den Risiken nichts wissen wollen.
Auch die Gewerkschaften üben Kritik. Grundsätzlich gilt in den SEZ das indische Arbeitsrecht. Doch
Arbeitnehmervertretungen ist es bisher nicht gelungen, in den bereits existierenden Zonen Fuß zu
fassen. Auch die These von Wachstum und Arbeitsplätzen wird hinterfragt. Häufig finde in Indien nur
noch die Montage statt, berichtet ein Gewerkschafter, die Einzelteile kommen aus dem Ausland.
Beschäftigung könnte nur entstehen, wenn sie von der traditionellen Klein- oder Heimindustrie
außerhalb der Zonen hergestellt würden.
Der größte Widerstand kommt von den Bauern. Obwohl die Regierung behauptet, Ackerland nicht
anzutasten, gibt es zahlreiche anders lautende Berichte. »Mehrere zehntausend Hektar werden
landesweit für die SEZ enteignet«, weiß Bharat Dogra. Das geschehe oft willkürlich, ohne die
notwendige Transparenz und ohne Mitsprache der örtlichen Bevölkerung. »Die Leute verlieren ihr
Land und werden nicht dafür entschädigt.« Dabei gehe es vielen Bauern gar nicht ums Geld. Durch
die Enteignungen werden sie ihrer Existenzgrundlage beraubt, daher sei die Entschädigung mit
fruchtbarem Ersatzland viel wichtiger. Doch auch das geschehe viel zu selten.
Bleibt also nur ein Arbeitsplatz in der SEZ? Dogra verneint: »In den Fabriken werden vor allem gut
ausgebildete Arbeitskräfte gebraucht. Deshalb findet höchstens einer von fünf Bauern eine
Anstellung. Für die anderen ist die Zukunft ungewiss.
Kritiker wie Dogra nennen die Sonderwirtschaftszonen »den größten Land-Diebstahl in der
Geschichte des unabhängigen Indiens«. Zwar müsse investiert werden, doch die SEZ kämen
ausschließlich den Reichen zugute. »Industrielle, Bauunternehmer, Immobilienspekulanten und
korrupte Politiker können sich dank des Gesetzes auf dem Rücken der Landbevölkerung
bereichern.«
Doch der Protest wird lauter. So haben sich Nichtregierungsorganisationen und Bauernverbänden
im Netzwerk »Sangharsh 2007« (Aktion 2007) zusammengeschlossen, um den Druck zu erhöhen.
Mit Erfolg: Nach den Ereignissen von Nandigram kündigte die Regierung an, ein Gesetz zu
verabschieden, das die Entschädigung der von Enteignung Betroffenen eindeutig regelt. Dem
Parlament liegt der Entwurf seit ein paar Monaten vor, allerdings wird in den zuständigen Ministerien
noch um Einzelheiten gestritten.
* Aus: Neues Deutschland, 12. Juni 2007
Zurück zur Indien-Seite
Zurück zur Homepage