Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

"Naapeeki" treibt Tausende in den Tod

Eine tiefe Agrarkrise verursacht in Indien immer mehr Selbstmorde unter den Bauern

Von Hilmar König, Delhi *

Indiens Premier Manmohan Singh hat jetzt während einer Reise in von Missernten geplagte Gebiete des Unionsstaates Maharashtra den Bauern ein finanzielles Hilfspaket im Wert von umgerechnet 865 Millionen Dollar in Aussicht gestellt. Mindestens 980 verzweifelte Farmer begingen dort in letzter Zeit Selbstmord.

»Naapeeki« – das Marathi-Wort bedeutet Missernte – bekam der Regierungschef während seines zweitägigen Aufenthalts in der Region Vidarbha immer wieder zu hören. »Mein Vater starb im vorigen Monat, nachdem er ein Insektizid getrunken hatte. Er konnte den Kredit von 37 000 Rupien (etwa 820 Dollar) nicht zurückzahlen. Ich wünschte, der Premier wäre früher gekommen. Was ich erbe, sind Schulden und ein Flecken trockenes, unfruchtbares Land, auf dem seit vier Jahren nichts mehr gedeiht.« Der 26 Jahre alte Prakash Pawar hofft, dass aus dem Hilfspaket der Regierung etwas für ihn abfällt. Vinita Parteki, die einst eine Oberschule besuchte, fleht den Gast aus Delhi geradezu an: »Ich habe niemanden, der mir helfen könnte. Verschaffen Sie mir einen Job. Mein Mann beging im letzten Jahr nach wiederholten Missernten Selbstmord. Mit zwei kleinen Kindern stehe ich vor dem Nichts.«

Ein sichtlich ergriffener Premierminister beschwichtigte: »Ich verstehe eure Probleme, euren Schmerz und Ärger. Was ihr jetzt durchmacht, müsst ihr nicht noch einmal erleben.« Er wolle gemeinsam mit der Regierung Maharash-tras ernsthaft Lösungen für alle angesprochenen Probleme finden. Ja sogar von »Agrarreformen« sprach er. Das Hilfspaket hatte Manmohan Singh schon bei der Abreise in Delhi geschnürt und packte nun vor den Klein- und Mittelbauern die Einzelheiten aus. Es beinhaltet einen Schuldenerlass, eine Verbesserung existierender Bewässerungssysteme innerhalb der nächsten drei Jahre sowie eine Veränderung des Wassermanagements. Dazu kommen das Angebot von Alternativen wie Viehzucht und Futteranbau zur Monokultur Baumwolle, neues, den örtlichen Bedingungen angepasstes Saatgut zu niedrigeren Preisen, faire Kreditvergabe durch Agrarbanken sowie die Bildung einer Expertengruppe, die die Verschuldung in den ohnehin armen ländlichen Gebieten in ihrer Gesamtheit untersucht. Die Experten sollen nach drei Monaten ihren Bericht mit entsprechenden Empfehlungen vorlegen. Bis diese Pläne greifen, wird aber noch viel Zeit vergehen.

Offiziell spricht man von 8900 Farmer-Selbstmorden seit 2001 in den vier Unionsstaaten Maharashtra, Andhra Pradesh, Karnataka und Kerala. Doch Menschenrechtler wollen allein 2004 in Maharashtra 4100 Bauern registriert haben, die ihrem Leben aus wirtschaftlicher Not ein Ende setzten. Zwischen 1995 und 2003 sollen es landesweit fast eine Million gewesen sein. Experten sprechen von einem alarmierenden »Bauernsterben«, das die riesige Diskrepanz zwischen Land und Stadt illustriere, zwischen dem boomenden Indien, von dem die Ober- und Mittelschichten profitieren, und den miserablen Lebensverhältnissen in über 500 000 Dörfern, wo Landarbeiter im Schnitt 375 Dollar im Jahr verdienen.

Während eine relativ kleine Gruppe auf dem Weg zu einem »glitzernden Ziel nahe der Weltspitze« sei, so die namhafte Autorin Arundhati Roy, verschwinde die große Masse in der Dunkelheit. Mit der Globalisierung und Liberalisierung falle Indien auseinander. Roy ist keine einsame Mahnerin. Selbst die Konföderation der Indischen Industrie warnte angesichts von Position 127 im globalen Index menschlicher Entwicklung, dass das Land den angestrebten Status einer Supermacht nicht erreichen werde, wenn es Wachstum und Fortschritt in den ländlichen Gebieten, wo mindestens noch 60 Prozent der Gesamtbevölkerung leben, weiterhin vernachlässigt.

Die Krise ist nicht allein ungünstigen Witterungsbedingungen geschuldet, sondern auch dem Umgang mit den Folgen von Dürre und Missernten. Private Geldverleiher verlangen Wucherzinsen von jährlich bis 120 Prozent. Zudem verhalten sich Banken, die immerhin zwischen sieben und neun Prozent Zinsen verlangen, zögerlich mit der Kreditvergabe an wirtschaftsschwache Kleinst- und Kleinbauern. Die in der Region Vidarbha übliche Monokultur Baumwolle wird den Bauern zum Verhängnis, weil sinkende Weltmarktpreise zu unerträglichen Einbußen führen. So konstatierte der Agrarexperte Vijay Jawandhia: »Es gibt einen verheerenden Rückgang der Anbauflächen für Nahrungsmittelkulturen, besonders im Baumwollgürtel Vidarbha. Das muss man ändern, damit die Bauern sich wenigstens selber mit Lebensmittel versorgen können und eine Futterbasis für das Vieh schaffen.« Sinkende Preise für Baumwolle gingen einher mit steigenden Kosten für Düngemittel, Pflanzenschutz, genmanipuliertes Saatgut, Diesel und Strom. Wer einmal in der Schuldenfalle sitzt, hat keine Chance mehr, selbst wenn er seine Familien für eine gewisse Zeit noch mit dem Verkauf von Vieh, Ackergerät, Land und schließlich Wohnraum über Wasser halten kann. Viele Bauern sehen da im Freitod den einzigen Ausweg.

Obwohl viele Probleme spezifisch indische sein mögen, wird auch hier der Einfluss der Globalisierung auf die Agrarwirtschaften in Entwicklungsländern spürbar. Auf diesen Aspekt verwies der Premier in seinen Ausführungen vor den Bauern, auch wenn er behauptete, seine Regierung wehre sich heftig dagegen und versuche in der Welthandelsorganisation (WTO), keine Kompromisse bei der Verteidigung der Interessen der einheimischen Farmer zuzulassen. Vor allem Nicht nur Indiens Linke sehen das bedeutend kritischer. Brinda Karat, Politbüromitglied der KP Indiens (Marxistisch), bemerkte in einem Beitrag für die Zeitung »The Hindu«: »Die Regierung hält fest an ihrem neoliberalen Rahmen zum Schutz der Interessen des Unternehmer-Indiens.« In scharfem Gegensatz dazu stehe die sträfliche Vernachlässigung des Agrarsektors und der Nahrungsmittelwirtschaft.

* Aus: Neues Deutschland, 5. Juli 2006


Zurück zur Indien-Seite

Zurück zur Homepage