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Preis für eine mutige Inderin

Erfolgreich im Kampf gegen die Männergesellschaft im südöstlichen Bundesstaat Rajasthan

Von Henri Rudolph, Delhi *

Santosh Bai gehört der marginalisierten indigenen Gemeinschaft der Sahariya in Indien an. Ihre Auszeichnung für die Bekämpfung der Armut durch die Women World Summit Foundation hat in Indien für Aufsehen gesorgt.

Eine »außergewöhnliche Stammesangehörige« schaffte es dieser Tage in die Schlagzeilen der indischen Presse. Die 35 Jahre alte Santosh Bai ist Mitglied der indigenen Gemeinschaft der Sahariya im südöstlichen Distrikt des indischen Unionsstaates Rajasthan. Die Sahariya stehen am Rande der Gesellschaft und sind in ihrer Existenz gefährdet. Dass sich die Öffentlichkeit mit Bai befasste, verdankt sie einer Auszeichnung durch die Women World Summit Foundation (WWSF) in Genf und dem internationalen Netzwerk Empowerment for Women. Beide verleihen seit 1994 jährlich einen Preis für »Kreativität von Frauen im ländlichen Leben«. Wie Santosh Bai erhielten weltweit noch zehn andere Frauen den Preis für 2010.

Die Witwe und Mutter von zwei Kindern bewies in den letzten Jahren beispielhaften Mut mit ihrem Auftreten im Dorf Balada, in einem von männlicher Vorherrschaft geprägten ländlichen Gebiet. Alles begann damit, dass sie sich der Tradition widersetzte, vor einem Tempel und vor den Häusern der Wohlhabenden, die Schuhe auszuziehen, wie es alle Frauen machen mussten. Sie ließ ihre Sandalen an und wurde dafür vom Panchayat, dem Gemeinderat, zu 50 Rupien Strafe verurteilt. Sie zahlte nicht, sondern argumentierte, erst wenn die Männer ihre Schuhe vor dem Tempel und den anderen Häusern ausziehen, würde sie dem Brauch folgen. Sie setzte sich durch, weil ihrem Beispiel allmählich andere Frauen folgten, bis niemand mehr auf dieser offensichtlichen Diskriminierung bestand.

Danach schloss sich Santosh Bai als Freiwillige dem Sanitärprojekt »Swachha« an und profilierte sich weiter. Weit über die Dorfgrenzen hinaus erlangte sie Popularität, als sie sich für eine Impfkampagne gegen Geschlechtskrankheiten einsetzte. Bislang war diese Schutzimpfung ein Privileg der Männer. Sie erzwang, dass auch die Frauen geimpft werden. Die Einwohner Baladas wählten sie nach diesem Erfolg sogar für eine Amtsperiode zur Dorfvorsteherin. Das hielten manche freilich später für einen Fehler, weil Santhosh Bai gegen Korruption und Missbrauch der Finanzen im Panchayuat ankämpfte.

Aber von ihrem Kurs ließ sie sich nicht abbringen. Im Gegenteil, sie verärgerte die Männer mit ihrem Protest gegen den Alkoholverkauf im Dorf und dem Aufruf, die Mädchen zur Schule zu schicken. Als aus einem Gebiet des Distrikts »Hungertote« gemeldet wurden, schlug sie so lange Alarm, bis die örtliche Verwaltung Maßnahmen zur Versorgung der Kinder mit nahrhaften Lebensmitteln ergriff. Das alles, so lobte man sie in der vorigen Woche bei einer Veranstaltung in Jaipur, wo ihr der Preis überreicht wurde, rechtfertige, sie als »außergewöhnliche Stammesangehörige« zu bezeichnen.

* Aus: Neues Deutschland, 19. Oktober 2010


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