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Atomwaffenmacht Indien: Ein Platz an der Tafelrunde?

10 Jahre nach den indischen Kernwaffentests

Von Wolfgang Kötter*

Es ist zehn Jahre her, dass Indien am 11. u. 13. Mai 1998 die Welt mit einer Serie von Atomwaffentests schockte. Doch für Insider war dieser spektakuläre Eintritt in den exklusiven Klub der Nuklearwaffenmächte keine Überraschung. Bereits 24 Jahre zuvor hatte Delhi mit einer „friedlichen“ Kernexplosion seine technische Fähigkeit nachgewiesen, die natürlich ebenso für einen militärischen Sprengsatz funktioniert. Seit seiner Unabhängigkeit vor sechs Jahrzehnten ringt das Land um gleichberechtigte internationale Anerkennung und strebt zugleich nach regionaler Dominanz auf dem Subkontinent zwischen Golf von Bengalen und Arabischem Meer. Beide Motive prägen auch Indiens ambivalente Haltung zu Atomwaffen. Um nuklear gleichzuziehen, verfolgte es jahrzehntelang eine Doppelstrategie: Einerseits wurden die Kernwaffenmächte zur nuklearen Abrüstung aufgefordert, gleichzeitig aber eigene Atomwaffen entwickelt. Mit Hilfe von Kanada, der Sowjetunion und den USA entstanden die ersten Atomreaktoren, wurden Uranbergbau betrieben, Brennelemente hergestellt und Plutonium aufbereitet. Trotz ausländischer Hilfe zielte Indien aber von Anfang an auf Autarkie, um den vollständigen nuklearen Brennstoffkreislauf aus eigener Kraft zu beherrschen.

Das eigentliche Atomwaffenprogramm startete im Jahre 1962 nach einem verlorenen Grenzkrieg mit China. Am 18. Mai 1974 gelang es mit der Kernexplosion „Smiling Budda“ in der Thar-Wüste von Rajasthan erstmals erfolgreich, einen nuklearen Sprengsatz zu zünden. Nachbar und Rivale Pakistan forcierte daraufhin sein eigenes Atomwaffenprogramm, aber erst im Frühjahr 1998 konnte man auf die indischen Tests umgehend mit einer eigenen Explosionsserie antworten. Der regionale nukleare Rüstungswettlauf gewann weiter an Tempo und Schärfe. Zwar soll ein Abkommen gegen einen zufälligen Atomkrieg schützen und ein „Heißer Draht“ die direkte Kommunikation ermöglichen, dennoch flammen immer wieder neue Streitigkeiten mit Eskalationsgefahr zum Atomwaffenkrieg auf. Jede Seite könnte dabei zum nuklearen Erstschlag neigen, denn die Vorwarnzeit ist mit nur drei Minuten extrem kurz. Da die Arsenale bisher noch begrenzt sind, verfügt keiner von beiden über eine gesicherte Zweitschlagskapazität. In einem militärischen Konflikt muss also in kürzester Zeit entschieden werden, die Atomraketen zu starten oder aber die Superwaffen möglicherweise zu verlieren, noch bevor sie vom Boden abgehoben haben. Jüngsten Expertenuntersuchungen zufolge hätte bereits ein regionaler nuklearer Schlagabtausch neben den unmittelbaren Opfern auch weltweit verheerende Umweltkonsequenzen. Nach Berechnungen der Wissenschaftler von der University of Colorado würden ein riesiges Ozonloch und weltweite Verwüstungen für mindestens ein Jahrzehnt entstehen. Millionen Menschen wären unter anderem von Hautkrebs und Augenproblemen betroffen. Beim Einsatz von 100 Nuklearsprengköpfen mit der Zerstörungskraft der Hiroshimabombe würde die mittlere Temperatur auf der Erde um 1,25 ºC sinken. Das hätte globale Ernteverluste und Lebensmittelmangel mit bis zu einer Milliarde Hungeropfern zur Folge.

Das gegenwärtige Atomwaffenarsenal, das sich größtenteils in Pune, im westlichen Teil Zentralindiens befinden soll, wird auf bis zu 100 Sprengköpfe geschätzt. Das waffenfähige Plutonium reicht aber angeblich bereits in den nächsten Jahren für 300 bis 400 Atomwaffen aus. Sie sollen langfristig durch eine Triade land-, luft-, und seegestützter Trägermittel zum Ziel gebracht werden können. Gegenwärtig werden diverse Flugkörper unterschiedlicher Reichweite entwickelt und erprobt. Indien testet neben der nuklearfähigen und 350 km weit reichenden Kurzstreckenrakete Prithvi-3 eine Agni-III-Rakete, die eine Nutzlast von 1,5 Tonnen bis zu 3 500 km weit tragen kann. Noch für dieses Jahr sind Testflüge von Agni-IV-Raketen geplant, die mit 6 000 km dann endgültig interkontinentale Reichweite erlangen. Auch Kampfjets verschiedener Bauart und Herkunft stehen zur Verfügung. Darüber hinaus baut Indien neben den aus Frankreich importierten „Scorpène“-U-Booten ein eigenes atomgetriebenes Unterseeboot, bemüht sich aber auch um russische Atom-U-Boote. Außerdem ist der Bau zweier Flugzeugträger geplant. Eine nationale Raketenabwehr, deren zentrales Radar im Gurgaon-Stadtbezirk von Neu-Delhi stationiert ist, soll bis 2010 voll einsatzfähig sein.

Bereits seit Jahren wird Indien gescholten und geschmäht, weil es den Atomwaffensperrvertrag und auch das nukleare Testverbot ignoriert. Doch seit kurzem akzeptieren die USA mit dem ausgehandelten bilateralen Nuklearvertrag de facto den indischen Kernwaffenstatus und Delhi sieht sich auf der Schwelle zur edlen Tafelrunde der anerkannten Atomritter. Trotz aller innenpolitischen Kritik und entgegen den vom UNO-Sicherheitsrat verhängten Wirtschaftssanktionen sowie der in der Gruppe nuklearer Lieferländer vereinbarten Handelsbeschränkungen im atomaren Bereich hält die Bush-Administration an dem Nuklearabkommen fest. „Wir werden es niemals für tot erklären“, ließ die Sprecherin des Weißen Hauses, Dana Perino, dieser Tage wissen, „es ist außerordentlich wichtig.“ Washington verfolgt damit nämlich strategische Ziele und will durch die atomare Kooperation mit Indien vor allem den wachsenden Einfluss Chinas eindämmen. Doch das Abkommen wäre eine weitere Missachtung völkerrechtlicher Normen und bestehender Verträge seitens der Bush-Regierung. Das könnte andere Staaten zur Nachahmung veranlassen und letztlich das ohnehin angeschlagene Regime der nuklearen Nichtverbreitung vollends zerstören - mit dramatischen Konsequenzen für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit.

* Dieser Beitrag erschien - leicht gekürzt - unter dem Titel "Delhis atomarer Schock" in: Neues Deutschland, 10. Mai 2008


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