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Indien: Eine Mangelernährung hat viele Ursachen

Auf dem Subkontinent hungert fast die Hälfte aller Kinder bis fünf Jahren. Auch reiche Familien betroffen

Von Ashok Rajput, Neu-Delhi *

Indien sonnte sich noch im Glanz des zweiten Platzes in der Nationenwertung bei den gerade beendeten Commonwealth-Spielen in Delhi, da wurde es durch die Veröffentlichung einer Studie von »Save the Children« rüde auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Die Kinderschutzorganisation veröffentlichte in der vergangenen Woche eine Analyse der Ernährungsbedingungen, die sie in den 54 Commonwealth-Staaten angefertigt hatte. Indien führt die Negativliste an: 55 Millionen oder 43 Prozent aller Kinder bis fünf Jahre sind untergewichtig, sieben Millionen ihrer Altersgenossen sind schwer unterernährt.

M.S. Swaminathan, ein renommierter Agrarwissenschaftler und Vorsitzender der Koalition für nachhaltige Ernährungssicherheit, kommentierte dieses Ergebnis gegenüber der Tageszeitung The Times of India: »Indien trägt mit der Mangelernährung unter Kindern und Müttern eine enorme Last. Der Premierminister hat das eine nationale Schande genannt. Es muß dringend gehandelt werden, um einen wirklichen Wandel im Leben der Mütter und ihrer Kinder zu bewirken.«

Fast zur gleichen Zeit legte auch das Internationale Ernährungsforschungsinstitut IFPRI die Ergebnisse seines Globalen Hungerindex für 2010 vor. Unter 122 erfaßten Ländern rangiert Indien hier auf Position 67, weit hinter China und auch hinter den Nachbarstaaten Sri Lanka, Nepal und Pakistan. IFPRI-Direktor Ashok Gulati dazu: »Anders als in China haben höhere Wachstrumsraten in Indien nicht zur Abnahme des Hungers geführt.« Trotz eines Wirtschaftswachstums von 8,5 Prozent ist Indien sogar um zwei Plätze abgesackt. Als Grund dafür gibt das IFPRI an, daß Neu-Delhi im Vergleich zu den Nachbarstaaten weniger in die Gesundheits- und Wasserversorgung, Sanitäreinrichtungen, Bildung und den gesellschaftlichen Status von Frauen investiert, obwohl es seit Jahrzehnten eine Reihe von Sozialprogrammen gibt, die das Problem des Hungers und der Unterernährung gezielt mindern sollen.

Ein indischer Bericht über die gesundheitliche Lage der Familien kam jedoch schon für die Jahre 2005 und 2006 zu dem Schluß, daß auch 19,7 Prozent der Kinder in der reichsten Bevölkerungsschicht sowie 33,6 Prozent der »moderat Reichen« unterernährt sind. Offenbar liegt die Unterernährung also nicht nur an der Menge, sondern auch an der Qualität, am Nährwert der Mahlzeiten. Eßgewohnheiten, traditionelle Zubereitung der Speisen, regionale Besonderheiten; religiöse und Kastenrestriktionen tragen demnach zu einseitiger Ernährung und zu Mangelernährung bei.

Daß Abhilfe möglich ist, zeigt ein erfolgreiches Pilotprojekt in 60 Dörfern Rajasthans, in denen überwiegend indigene Adivasi leben. Der staatliche Integrierte Kinderentwicklungsdienst (ICDS), »Save the Children« und die lokale Gruppe Vaagdhara machten die Frauen mit neuen Formen einer bewußteren Zubereitung von Mahlzeiten, beispielsweise mit der Verwendung von Soja, Bananen und grünem Gemüse, vertraut. Bereits nach zwei Monaten hatte sich der Zustand von 450 leicht und 119 schwer unterernährten Kindern wesentlich verbessert.

* Aus: junge Welt, 19. Oktober 2010


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