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"Kleine Inseln des Wohlstands im Ozean der Armut"

Gespräch mit Ardhendu Bhushan Bardhan und D. Raja. Über 60 Jahre Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien, den Zustand des Landes heute und die Entwicklung der indischen Kommunisten


  • Ardhendu Bhushan Bardhan, 81 Jahre, seit elf Jahren Generalsekretär der Kommunistischen Partei Indiens (KPI). Der Bengale war lange Generalsekretär des kommunistisch orientierten Gewerkschaftsbundes AITUC. Kürzlich erschien sein Name auf einer inoffiziellen Liste der Kandidaten für das Amt des indischen Vizepräsidenten.
  • D. Raja ist 58 Jahre alt. Er studierte Mathematik und Naturwissenschaften. Der Tamile studierte ein Jahr in Moskau Gesellschaftswissenschaften. Er ist Mitglied des Politbüros der KPI und als künftiger Generalsekretär im Gespräch. Seit Ende Juli ist er Abgeordneter des Rajya Sabha, des Oberhauses des Parlaments.
  • Die KPI wurde 1925 gegründet. Sie hat heute ungefähr 550000 Mitglieder. Im Parlament ist sie mit zehn Abgeordneten vertreten. In den Abgeordnetenhäusern der Bundesstaaten hat die Partei insgesamt 49 Vertreter. Sie wirkt in linken Koalitionsregierungen in den drei Bundesstaaten Westbengalen, Kerala und Tripura mit. Massenorganisationen der KPI sind der Gewerkschaftsbund, die Jugend- und die Studentenföderation, die Nationale Frauenföderation sowie der Verband der Bauern (Kisan Sabha) und der Bund der indischen Landarbeiter. Parteiorgan ist die wöchentlich erscheinende New Age.
(H.K.)


Welche Errungenschaften im Verlauf von 60 Jahren Unabhängigkeit würden Sie als besonders wertvoll bezeichnen?

A. B. Bardhan: Indien als Vielvölker- und multireligiöser Staat genießt weltweit Anerkennung. Es ist eine entscheidende Kraft in der internationalen Arena. Die Stimmen von 1,3 Milliarden Indern werden in der Welt gehört. Jawaharlal Nehrus berühmter Ausspruch in der Mitternachtsansprache zur Proklamation der Unabhängigkeit vom »Stelldichein mit dem Schicksal« war recht zutreffend. Wir haben unseren Weg gemacht, wenn auch mit Höhen und Tiefen.

D. Raja: Wir haben die politische Unabhängigkeit, unsere staatliche Souveränität bewahrt. Keine Macht kann Indien aus den Angeln heben. Wir haben ein säkulares, kein theokratisches Staatswesen, eine republikanische Verfassung, ein parlamentarisches Mehrparteiensystem und ein universales Wahlrecht. Trotz enormer regionaler Unterschiede und einer vielfältigen, gemischten Kultur besitzen wir die staatliche Einheit. Indien ist Heimstatt aller Religionen geblieben.

Sie sprachen von »Tiefen« der Entwicklung nach der Unabhängigkeit. Können Sie Beispiele nennen?

A. B. Bardhan: Es begann mit der Teilung des Subkontinents in zwei Staaten – Indien und Pakistan. Das hat zu Tod, Not und Elend geführt und bis in die Gegenwart reichende Probleme geschaffen. Ich sage nur: Kaschmirkonflikt. Ein anderes Beispiel sind die sozialökonomischen Bedingungen unter der Regierung der Vereinten Progressiven Allianz. Sie stellt ihren Kurs – 9,4 Prozent Wachstumsrate, die Börse im schwindelerregenden Höhenflug, gewaltige Devisenreserven von über 220 Milliarden Dollar – als Erfolge eines »Wirtschaftswunders« dar. Aber das ist ein schiefes, verdrehtes Bild. Von dieser Entwicklung profitieren zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung, etwa 130 Millionen Menschen. Verglichen mit anderen Staaten ist das zwar viel. Aber die erdrückende Mehrheit der Inder hat keinen Nutzen davon und geht leer aus.

Trotzdem wird die Entwicklung als »ökonomischer Fortschritt« bezeichnet...

A. B. Bardhan: Wir bewerten es nicht als ökonomischen Fortschritt, weil es nichts mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat. 78 Prozent des Volkes sind arm. Die offizielle Statistik spricht von etwa 30 Prozent Indern, die unter der Armutsgrenze leben. Die Nahrungsmittelknappheit nimmt beängstigende Ausmaße an. Der Landwirtschaftsminister hat den Import von einer Million Tonnen Getreide angekündigt, obwohl wir ein Agrarland sind. Die Regierung will dafür 1800 bis 1900 Rupien pro 100 Kilo bezahlen, während die einheimischen Farmer 800 Rupien bekommen. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Bauern. Hunderte, ja Tausende von ihnen sehen sich in auswegloser Lage und begehen Selbstmord. Wir stecken in einer gewaltigen Agrarkrise.

Dann die Arbeitslosigkeit. Die Lage spitzt sich zu. Die Entwicklung ist nicht arbeits-, sondern kapitalintensiv. Und es ist eine Schande, daß nach 60 Jahren noch immer verbreitetes Analphabetentum auf uns lastet, wir uns mit Kinderarbeit, fehlenden Schulen und Krankenhäusern befassen müssen. Beim globalen »menschlichen Entwicklungsindex« steht Indien unter 177 Ländern an 126. Stelle.

D. Raja: Zu den »Tiefen« noch eine Zahl: Weltweit liegt Indien mit seinem Armutsniveau auf Platz 55 von 122 erfaßten Ländern. Wir haben kleine Inseln des Wohlstands in einem Ozean der Armut. Dann herrscht bei uns das schändliche Kastensystem mit den am stärksten benachteiligten 180 Millionen Dalits (Kastenlose, Unberührbare) und 80 Millionen Adivasi (Ureinwohner). Und die praktische Gleichberechtigung der Frau ist ebenfalls noch eine große Aufgabe. Wir haben religiöse Frömmelei, Fundamentalismus sowie bewaffnete Rebellionen in verschiedenen Landesteilen.

Ich kann Ihnen aus eigenem Erleben schildern, was Armut heißt. Ich stamme aus einer Familie von Landarbeitern aus dem Bundesstaat Tamil Nadu. Meine Eltern waren rechtlose Dalits. Mittagessen kannte ich nicht. Zum Frühstück gab es Reis in Wasser gekocht, zum Abendessen Reis in einer dünnen Gemüsetunke. Ich lief täglich barfuß vier Kilometer zur Grundschule und zurück. In unserer Hütte gab es natürlich keinen elektrischen Strom. Zu bestimmten Zeiten wurde eine Petroleumlampe angezündet. Schularbeiten machte ich unter der Straßenlaterne. Damit ich ordentlich gekleidet aufs College gehen konnte, schenkte mir mein Lehrer zwei Paar lange Hosen von sich, die ersten in meinem Leben. Doch trotz aller bitteren Armut sorgten meine Eltern dafür, daß alle sieben Kinder eine ordentliche Schulbildung bekamen. Diese Lebensverhältnisse trugen übrigens wesentlich dazu bei, daß ich schon sehr früh zur kommunistischen Bewegung fand.

Wie bewerten Sie die Startbedingungen für den neuen Staat Indien zu Zeiten der Unabhängigkeit?

D. Raja: Wir sehen natürlich, wie schamlos unser Land vor 1947 von den Kolonialisten ausgeplündert und als Absatzmarkt für englische Produkte mißbraucht wurde. Wir sehen auch, wie unter Nehru der staatliche Sektor in der Industrie, bei Banken und Versicherungen aufgebaut und eine Planung eingeführt wurden. Die UdSSR und andere sozialistische Staaten standen dabei Pate. Was von diesem staatlichen Sektor noch besteht, darf nicht angetastet werden. Der Widerstand der Linken hat bewirkt, daß profitable Staatsunternehmen bisher nicht privatisiert wurden.

Die Linke ist zwar nicht an der Regierung beteiligt, unterstützt diese jedoch von außen. Warum?

D. Raja: Wir wollen verhindern, daß hindufundamentalistische Kräfte wieder an die Macht kommen. Das bedeutet aber nicht, daß wir unser Ziel, eine linke demokratische Alternative, aufgegeben hätten. Wir befinden uns in einer Übergangsphase und im Zeitalter von Koalitionen. Unsere Unterstützung ist sehr kritisch und selektiv.

A. B. Bardhan: Es gibt eine Anzahl von Kabinettsvorhaben, zu denen wir strikt nein sagen. Ein paar Beispiele: Die Regierung beabsichtigt, den Kleinhandel den großen internationalen Ketten wie Walmart oder Cargill zu öffnen. Im Kleinhandel sind in Indien mindestens 40 Millionen Menschen beschäftigt. Deren Existenzgrundlage wäre bedroht. Oder die Bildung von Wirtschaftssonderzonen, die dem Big Busineß dienen. Es handelt sich dabei um Areale von bis zu 5000 Hektar Größe, oft bestes Ackerland, in denen die Firmen Extrakonzessionen, Steuergeschenke erhalten, Arbeitsgesetze nicht gelten und Gewerkschaften nicht erlaubt sind. Wir nennen das schlicht Landraub und halten diese Zonen für »ausländische Territorien«. Die Unzufriedenheit darüber wächst. Im südlichen Bundesstaat Andhra Pradesh befanden sich deshalb die dortigen Sekretäre der KPI und der KPI (Marxistisch) Ende Juli gemeinsam im Hungerstreik. Die Polizei ging mit Gewalt gegen sie vor. Auf Landlose, die friedlich für eine gerechte Bodenreform demonstrierten, schossen die Beamten und töteten sieben Menschen.

Wir fordern außerdem, das staatliche Verteilungssystem, das den Armen das Leben etwas erträglicher machen soll, wiederzubeleben. Es muß verhindert werden, daß die für dieses System bereitgestellten Nahrungsmittel auf dem Schwarzmarkt verscherbelt werden. Und wir verlangen ein Gesetz, das die Arbeitsbedingungen im sogenannten unorganisierten Sektor regelt. 93 Prozent der gesamten indischen Arbeiterschaft, die Landarbeiter eingeschlossen, sind in diesem Bereich beschäftigt. Sie sind rechtlos und vollkommen der Willkür der Kontraktoren und Unternehmer ausgeliefert.

Die Regierung ist jetzt über drei Jahre am Ruder. Weil wir bei den nächsten Wahlen kein Desaster erleben wollen, drängen wir die Regierungskoalition, ihren Kurs zu überprüfen, genau zu checken, was im »Gemeinsamen Minimalprogramm« verwirklicht wurde und was nicht. Die Linken werden das ebenfalls tun und ihre Schlußfolgerungen ziehen.

Sie erwähnten die Gleichberechtigung der Frau. Erwarten Sie dafür durch die kürzliche Wahl von Pratibha Patil zum Staatsoberhaupt einen Impuls?

D. Raja: Wir hatten ja mit Indira Gan­dhi bereits eine starke Premierministerin, eine resolute Führungspersönlichkeit in der Bewegung der Blockfreien, international akzeptiert. Aber auch sie hat die Frauenprobleme nicht gelöst. Der Sieg von Frau Patil signalisiert, daß sich etwas tut in Richtung Gleichberechtigung. Er gibt der Frauenbewegung Selbstvertrauen und moralische Stärke.

A. B. Bardhan: Im sechzigsten Jahr der Unabhängigkeit ist es ein positives Zeichen. Aber wir müssen nach vorn schauen. Jetzt geht es darum, im Parlament endlich das Gesetz zur Reservierung von 33 Prozent der Abgeordnetensitze für Frauen zu verabschieden. In den Kreis- und Gemeinderäten funktioniert das ja bereits.

Was halten die Linken vom außenpolitischen Kurs Neu-Delhis?

A. B. Bardhan: Wir erleben seit einiger Zeit ein Techtelmechtel, eine Annäherung an die USA. Wir haben nichts gegen freundschaftliche, gegenseitig vorteilhafte bilaterale Beziehungen. Aber wir lehnen es ab, in eine militärische Partnerschaft mit Washington einzutreten und in dessen strategische Planungen einbezogen zu werden. Wir brauchen keine Flottenmanöver in der Bucht von Bengalen, an denen die USA mit atomgetriebenen Flugzeugträgern, Australien, Japan, Singapur und Indien teilnehmen. Wir müssen uns keine Vorschriften bezüglich der Relevanz der Blockfreienbewegung und keine Kritik an der wichtigen Erdgasleitung gefallen lassen, die von Iran über Pakistan bis nach Indien führen soll.

Indiens Außenpolitik betrifft auch das Verhältnis zu Pakistan und zum Teil das Kaschmir-Problem. Was meinen sie dazu?

A. B. Bardhan: Den indo-pakistanischen Friedensdialog unterstützen wir, ebenso alle vertrauensbildenden Maßnahmen, die das Zusammenleben der Menschen in beiden Ländern erleichtern. In diesem Sinne traten die Generalsekretäre der beiden kommunistischen Parteien auch im vorigen Jahr bei ihrem Besuch in Pakistan und im Gespräch mit Präsident Pervez Musharraf auf. Wir schätzen ein, daß dieser Dialog eine gute Basis hat.

Kaschmir ist noch immer ein heißes Eisen. Aber Musharraf hat begriffen, daß die Grenzlinie in Jammu und Kaschmir nicht verändert werden kann. Indien hat ebenfalls erkannt, daß der von Pakistan besetzte Teil Kaschmirs nicht mit Waffengewalt erobert werden kann. Die Bevölkerung auf beiden Seiten soll miteinander in Verbindung treten, sich besuchen, austauschen, Handel treiben. Diese Grenzlinie soll keine Chinesische Mauer sein, sondern eine Linie des Friedens werden. Es ist ein historischer Prozeß, der schon 60 Jahre dauert. Der Konflikt kann nur mit einer für alle Beteiligten – Kaschmiren, Inder und Pakistaner – befriedigenden Lösung beigelegt werden.

Indien feiert nicht nur das 60. Unabhängigkeitsjubiläum, sondern auch den 150. Jahrestag des Großen Aufstands. Wie schätzt die KPI dieses Ereignis ein?

D. Raja: Die Revolte schlug zwar fehl, aber die Nation sammelte wertvolle Erfahrungen, die sie für das Entstehen der modernen indischen nationalen Bewegung nutzte und mit neuen Ideen befruchtete. Der Prozeß gipfelte 1947 im Zertrümmern des kolonialen Jochs. Wir haben aus dem Aufstand vor allem die Lehre gezogen: Gegen Okkupanten und Unterdrücker muß man sich über alle Kasten- und Religions-, regionalen und ethnischen Grenzen hinweg vereinigen und erheben. Wir sehen den Aufstand als ersten Unabhängigkeitskrieg Indiens.

Wie hat sich die kommunistische Bewegung in den vergangenen 60 Jahren entwickelt?

D. Raja: Die kommunistische Bewegung entstand ja bereits 1925. Auch Mahatma Gandhis Aufstieg begann in dieser Zeit. Die Kongreßpartei und die KP waren treibende Kräfte der nationalen Befreiungsbewegung. Nach der Unabhängigkeit hatten wir 1957 im Bundesstaat Kerala die erste gewählte kommunistische Regierung. Daß Indien heute das wohl stärkste parlamentarisch-demokratische System in der Welt hat, dazu haben die Kommunisten einen beachtlichen Beitrag geleistet.

1964 hatten wir dann die schmerzliche Spaltung zu verkraften, arbeiten aber seit Jahren auf vielen Gebieten mit der KPI (Marxistisch) wieder zusammen, in Westbengalen ununterbrochen seit 30 Jahren in der Linksfrontregierung. Zur Spaltung war es durch konträre Auffassungen zum kommunistischen Weltzentrum – Moskau oder Peking? –, zu Lenins Nationalitätenpolitik, zur Bündnispolitik mit der nationalen Bourgeoisie gekommen, um nur einige zu nennen. Die KPI hat auf allen Parteitagen ihre Bereitschaft zur linken Einheit bekräftigt. Unsere Differenzen sind bedeutend geringer geworden. In internationalen Fragen sind unsere Positionen nahezu identisch. Aber es bestehen nun einmal zwei Parteien. Die Geschichte wird über den Zeitpunkt einer Wiedervereinigung entscheiden.

Interview: Hilmar König, Neu-Delhi

* Aus: junge Welt, 11. August 2007 (Wochenendbeilage)


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