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Anhaltende Unruhen und Polizeiterror in Haiti - Putschregime in Karibischer Gemeinschaft isoliert

Menschenrechtsgruppen sprechen von Repressionskampagnen gegen Anhänger des gestürzten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide. Ein Interview

Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel über die aktuelle Lage in Haitit sowie ein Interview mit einem Parteigänger des gestürzten Präsidenten Aristide. Beide Texte erschienen in der Tageszeitung "junge Welt".

Polizeiterror in Haiti isoliert Putschregime

Von Harald Neuber

Seit der gewählte Präsident von Haiti, Jean-Bertrand Aristide, in der Nacht zum 1. März unter bislang ungeklärten Umständen gestürzt und in die Zentralafrikanische Republik verschleppt wurde, ist das von den USA und der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich eingesetzte Regime isoliert. Allein aus Washington und Paris kommt dem Machthaber Gerard Latortue uneingeschränkte Unterstützung zu. Auch auf dem Treffen der Staats- und Regierungschefs der Karibischen Gemeinschaft (CARICOM) Anfang kommender Woche in Trinidad wird der Fall Haiti zu Diskussionen führen. Acht Monate nach den Staatsstreich bestehen noch immer keine offiziellen Kontakte zwischen Haiti und dem Regionalbündnis. Die Putschregierung hatte die Beziehungen nach der Machtübernahme abgebrochen, weil die jamaikanische Regierung Aristide über Wochen hinweg politisches Asyl zugestanden hat.

»Die CARICOM sollte zweimal darüber nachdenken, die Beziehungen zu der Regierung in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince wieder aufzunehmen«, warnte nun der Außenminister von Guyana, Rudy Lusanally. Zwar hatten einige der 15 CARICOM-Mitglieder für eine Normalisierung der Beziehungen plädiert, »die jüngste Eskalation der Gewalt aber hat die Diskussion neu entfacht«. Tatsächlich bestätigen mehrere Menschenrechtsgruppen gezielte Kampagnen gegen Anhänger des gestürzten Präsidenten. In der vergangenen Woche hatten die Übergriffe den Weg in die internationalen Schlagzeilen gefunden, als zwölf Jugendliche in einem Stadtteil von Port-au-Prince, in dem viele Lavalas-Unterstützer leben, auf offener Straße exekutiert wurden. Die Basis von Aristides Partei Fanmi Lavalas befindet sich vor allem in den Armenstadtteilen der Hauptstadt und in den sozial vernachlässigten ländlichen Gebieten. Bei der UN-»Schutztruppe« für Haiti (MINUSTAH) gibt diese Entwicklung keinen Anlaß zur Sorge. »Wir sind entsandt worden, um die Regierung zu beschützen. Das ist der Auftrag, den uns der US-Sicherheitsrat gegeben hat«, wurde MINUSTAH-Kommandant Juan Gabriel Valdéz jüngst von der jamaikanischen Tageszeitung Jamaican Observer zitiert.

Nach einem Bericht der britischen Tageszeitung Guardian wurden in den vergangenen Monaten Hunderte Unterstützer des gestürzten Präsidenten Aristide inhaftiert. Laut Reporter Reed Lindsay sind »nur 21 von rund 1 000 Gefangenen in einem zentralen Gefängnis von Port-au-Prince unter offizielle Anklage gestellt worden«. Weil die Gefängnisse nach dem Staatsstreich von aufständischen Paramilitärs geöffnet wurden, könne man davon auszugehen, daß alle Insassen nach dem Sturz Aristides inhaftiert wurden. Die zunehmende Repression gegen dessen Anhänger beschäftigt zum wiederholten Male auch das US-Repräsentantenhaus. In einer Petition an Außenminister Colin Powell fordert die afroamerikansiche Abgeordnete Maxine Waters und 30 ihrer Parlamentskollegen »die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen in Haiti«.

"UN-Truppe unterstützt Paramilitärs"

Acht Monate nach dem Sturz von Aristide eskaliert politische Gewalt im Land. Ein Gespäch mit Jonas Petite

Frage: Die vergangenen Wochen waren von gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Mitgliedern Ihrer Partei und Polizisten in den armen Vierteln der Hauptstadt Port-au-Prince bestimmt. Wie kam es dazu?

Petite: Die aktuelle Lage erinnert sehr an die Situation nach dem Staatsstreich im Jahr 1991. Schon damals versuchten die CIA-nahen Hintermänner des Umsturzes, ein falsches Bild von der Lage in Haiti zu verbreiten, um internationale Unterstützung zu erhalten. Es genügt ja ein einfacher Blick auf die Pressefotos: Auf keinem dieser Bilder sind arme Slumbewohner zu sehen, die auf Polizisten schießen. Das Gegenteil ist der Fall. Wie schon 1991 sollen derzeit offenbar Tausende Menschen in den Armenstadtteilen ermordet werden, damit die Putschisten sich an der Macht halten können. Damals gelang ihnen das für ganze drei Jahre. 1994 kehrte Präsident Aristide aus dem Exil zurück.

F: Augenzeugenberichten zufolge sind Mitte vergangener Woche zwölf Jugendliche im Slumviertel Fort National von Polizisten exekutiert worden. Von wem stammen diese Angaben?

Wir haben Berichte von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen erhalten, darunter der Haitianische Anwaltsverein, das Institut für Gerechtigkeit und Demokratie in Haiti, aber auch von Presseagenturen wie Reuters, Agence Haitienne de Presse, dem britischen Observer oder dem Miami Herald aus den USA. Sie alle gehen von einem Massaker aus. Aber dieser Fall stellt nur die Spitze des Eisbergs dar. Seit März gibt es ständig politische Morde an der Lavalas-Basis in den armen Stadtteilen. Das Massaker vom vergangenen Donnerstag war nur ein Fall, der ans Tageslicht kam.

F: Vertreter der militärisch eingesetzten Übergangsregierung unter Gérard Latortue leugnen eine Beteiligung an dem Massaker.

Machen Sie nicht den Fehler, den Befehlsgebern der Todesschwadrone zu glauben! Fragen Sie die Familien der Opfer, denn ihre Angehörigen sind tatsächlich getötet worden, und die Leichen in den Straßen sind real. Der »Präsident« Gerard Latortue ist der Vorsitzende der Nationalen Polizeibehörde, und »Justizminister« Bernard Gousse hat eine führende Position in dieser Behörde inne. Die Polizei erhält also direkte Anweisungen von den beiden. Sie können sich sicher sein, daß die Familien der Opfer die Befehlsgeber juristisch zur Verantwortung ziehen werden, sobald dies möglich ist. Aus diesem Grund versucht das Latortue-Regime, sie als Kriminelle darzustellen.

F: Pressemeldungen zufolge haben Lavalas-Anhänger Ende September den militärischen Widerstand gegen die Regierung erhöht. Mit welchem Ziel?

Lassen sie mich eines klarstellen. Die Lavalas-Regierung wurde am 29. Februar 2004 gewaltsam gestürzt. Seither versuchen unsere Anhänger, friedlichen Widerstand gegen das Regime zu leisten. Wenn die Darstellung gewalttätiger und schwerbewaffneter Lavalas-Gruppen der Wahrheit entsprächen, warum konnten die sogenannten Rebellen nach der Entführung Präsident Aristides dann so leicht auf die Hauptstadt vorrücken?

F: Trotzdem heißt es, Ihre Anhänger führten eine »Operation Bagdad« zum Sturz Latortues durch.

Diese Bezeichnung stammt vom Latortue-Regime. Es ist eine dreiste Erfindung, um sich mit der Gleichsetzung unseres legitimen Widerstandes zu den Auseinandersetzungen in Irak die Sympathien der US-Regierung zu sichern.

F: Welche Rolle spielen die 3 000 Soldaten der UN-Truppe für Haiti (MINUSTAH)?

Die MINUSTAH ist offenbar mit der Aufgabe betraut, die politischen Verhältnisse nach dem Staatsstreich zu etablieren. Als wir die UN baten, die haitianische Bevölkerung vor dem Terror der Todesschwadrone in den vergangenen Wochen und Monaten zu schützen, bekamen wir noch nicht einmal eine Antwort. Nach dem Sturz von Präsident Aristide aber hat der Sicherheitsrat nur wenige Stunden benötigt, um Truppen nach Haiti zu entsenden, die mit den Paramilitärs kooperieren.

* Jonas Petite ist Sprecher der Partei Fanmi Lavalas des gestürzten haitianischen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide. Er lebt im US-amerikanischen Exil

Interview: Harald Neuber


Internetseite der Fanmi Lavalas: www.hayti.net


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