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Präzedenzfall Haiti

Mandat der UN-Blauhelme geht ins zweite Jahr. Zweifelhafte Bilanz

Von Harald Neuber*

Auch über ein Jahr nach dem Sturz des gewählten Präsidenten Haitis, Jean-Bertrand Aristide, hat sich die katastrophale Menschenrechtslage in dem Karibikstaat nicht verbessert. Wegen der anhaltenden Probleme soll die »UN-Mission zur Stabilisierung Haitis« (MINUSTAH) nun verlängert werden. Die Blauhelme hatten am 1. Juni 2004 eine französisch-amerikanische Besatzungstruppe abgelöst, die nach Haiti entsandt wurde, nachdem Aristide Ende Februar 2004 unter noch immer ungeklärten Umständen zur Aufgabe des Amtes und zur Ausreise gezwungen worden war.

Die Verlängerung des UN-Mandats sorgt nun sowohl in Haiti als auch in den an der Mission beteiligten Staaten für neue Debatten über die Auswirkungen des Einsatzes. Menschenrechtsgruppen hatten die MINUSTAH im Laufe des vergangenen Jahres wiederholt beschuldigt, das repressive Interimsregime an der Macht zu halten. Besonders in Chile, dessen Regierung knapp 600 Soldaten und Polizisten zur Unterstützung der MINUSTAH entsandt hat, ist die fortgesetzte Truppenpräsenz daher in der Kritik. Nachdem die parlamentarischen Außen- und Sicherheitsausschüsse die Stationierung am Mittwoch vergangener Woche um zunächst sechs Monate verlängert hatten, kritisierte die KP Chiles diese Entscheidung. Mit der Mission werde ein »verhängnisvoller Präzedenzfall für künftige Interventionen auf unserem Kontinent und weltweit« geschaffen. Die Haitianer lehnten die Stationierung ausländischer Truppen ab, heißt es in der Erklärung der Partei, »über deren Präsenz sie nicht befragt wurden, die sie weder erbeten haben noch benötigen«.

Tatsächlich wächst in der haitianischen Bevölkerung der Unmut über die andauerne katastrophale Versorgungs- und Menschenrechtslage. Zwei Wochen vor Ende des ursprünglichen MINUSTAH-Mandats kam es in Port-au-Prince zu einer der größten Demonstrationen von Kritikern der Interimsregierung seit dem Sturz Aristides; über 5000 Menschen forderten die Rückkehr des gewählten Präsidenten. »Aristide ist schon einmal gegangen und zurückgekehrt«, skandierte die Menge in Anspielung auf den Militärputsch im Jahr 1991. Drei Jahre später, im Oktober 1994, war Aristide aus dem Exil nach Haiti zurückgekehrt. »Die jüngste Großdemonstration blieb zunächst ohne weitere Zwischenfälle, weil UN-Blauhelme sie begleiteten«, meint Brian Concannon vom US-amerikanischen Institut für Gerechtigkeit und Demokratie in Haiti. In der Vergangenheit hatten Polizisten immer wieder auf Pro-Aristide-Demonstrationen geschossen und Teilnehmer getötet. Die Brutalität hat einen einfachen Grund: Nach dem Putsch wurde die Polizei mit Aristide-Gegnern erneuert, viele der neuen Polizisten gehörten einst der Armee an, die Aristide nach seiner Rückkehr aus dem Exil 1994 aufgelöst hatte. In ihrem neuen Jahresbericht kritisiert auch Amnesty International, daß zahlreiche Menschenrechtsverletzter inzwischen hochrangige Posten besetzen.

Während Aristide im südafrikanischen Exil lebt, sitzen viele seiner Mitarbeiter in Haiti im Gefängnis. Auch der ehemalige Innenminister Yvon Neptune ist von der Interimsregierung unter zweifelhaften Anklagen inhaftiert worden. Als eine Delegation unter Leitung der Kongreßabgeordneten der Demokratischen Partei der USA Maxine Waters den 58jährigen Mitte Mai besuchen wollte, bekamen die Menschenrechtsbeobachter gleich am Flughafen eine Kostprobe von den neuen politischen Verhältnissen in Haiti: Dem Juristen Ira Kurzban wurde die Einreise verweigert, offenbar, weil er zum Anwaltsteam des gestürzten Präsidenten zählt. Nachdem die Diplomaten um Waters schließlich doch noch zu Neptune gelangten, bot sich ihnen ein erschreckendes Bild: »Herr Neptune war so schwach, daß er nur mit leiser Stimme sprechen konnte«, sagte Maxine nach dem Besuch auf einer Pressekonferenz. Nach mehreren Mordversuchen während der Haft müsse man um sein Leben fürchten.

Aus: junge Welt, 28. Mai 2005


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