Aufruhr im "Land der Berge"
Proteste in Haiti gegen steigende Preise für Lebensmittel
Von Hans-Ulrich Dillmann, Santo Domingo *
Bei Demonstrationen gegen steigende Lebensmittelpreise sind im Süden Haitis mindestens vier
Menschen getötet worden. Mehr als 30 Personen wurden bei den gewalttätigen
Auseinandersetzungen in Les Cayes am vergangenen Donnerstag und Freitag verletzt, berichtete
eine Sprecherin der internationalen UN-Sicherheitstruppe MINUSTAH.
Mehrere UN-Fahrzeuge wurde nach den Angaben der Sprecherin in Brand gesetzt, zahlreiche
Geschäfte geplündert. In der an der Südwestküste gelegenen Hafenstadt wurde ein Ausgangssperre
verhängt. Zusätzliche UNO-Blauhelmtruppen und Aufstandsbekämpfungseinheiten sollen weitere
Proteste verhindern.
Seit dem Sturz von Staatspräsident Jean-Bertrand Aristide sorgen rund 9000 UN-Soldaten für die
Sicherheit des Landes. Im Jahr 2007 wurde mit René Preval ein neuer Staatspräsident gewählt.
Auch in der viertgrößten Stadt des Landes, Gonaïves, und in Petit Goâve, knapp 90 Kilometer
südlich der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince entfernt, sei es zu Demonstrationen gekommen.
Allerdings gab es in diesen Städten keine Gewalttätigkeiten, sagte UN-Sprecherin Sophie Bonstand
de la Combe.
Die Proteste richteten sich gegen die gestiegenen Lebensmittelpreise. Grundnahrungsmittel wurden
zum Teil bis zu 50 Prozent teurer. Der Ministerpräsident des Landes, Jacques-Edouard Alexis,
zeigte in einer Erklärung Verständnis für die Forderung der Demonstranten nach
Preisreduzierungen. Allerdings erschwerten die Gewalttätigkeiten die Arbeit der Regierung im
»Kampf gegen Korruption und Drogenhandel«, sagte Alexis nach Angaben des Rundfunksenders
Radio Metropole.
Unter der Verteuerung leiden vor allem die Armen des Landes. Rund 80 Prozent der Bevölkerung
müssen ihren täglichen Unterhalt von ungefähr 1,25 Euro bestreiten. Knapp die Hälfte der rund 9,5
Millionen Landeseinwohner haben noch nicht einmal einen Euro am Tag zur Verfügung. Fast zwei
Millionen Bewohner des »Landes der Berge«, wie Haiti in der deutschen Übersetzung heißt, leben
inzwischen im Ausland. Ohne die Auslandüberweisungen in Höhe von 1,8 Milliarden US-Dollar allein
im vergangenen Jahr könnten die Armen und Ärmsten nicht überleben. Kaum jemand hat eine feste
Anstellung. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt von Gelegenheitsarbeiten. Haiti gehört weltweit zu
den drei Ländern mit dem höchsten Kaloriendefizit. Im Durchschnitt nehmen Haitianer nur drei
Viertel des Mindestbedarfs von 2100 Kilokalorien täglich zu sich. Ein Großteil der Armenkinder
nimmt nur eine Mahlzeit am Tag ein. Die Mehrheit der Bevölkerung ernährt sich vornehmlich von
einem Gericht aus Reis und Bohnen, das mit etwas Billigfett und nur ab und an einmal mit Fleisch
aufgewertet wird. Im Vergleich zum Februar 2007 sind die Preise für Fleisch um gut 12 Prozent, für
Mehl um 31 Prozent, für Brot um 27 Prozent gestiegen.
Manche Haitianer müssen sich inzwischen im wahrsten Sinne des Wortes von Erde ernähren. In den
Armenvierteln machen Rezepte für »Sandplätzchen« die Runde. Die gelbe Erde aus der Region von
Hinche wird mit billigem Pflanzenfett und Salz vermischt, dann wird die Masse gebacken. Die Erde
wird seit langem von Schwangeren und Kindern als Heilmittel gegen Magenprobleme und als
Kalziumquelle geschätzt. Aber auch hier machen sich die Preissteigerungen des vergangenen
Jahres bemerkbar. Der Sand für rund 100 »Sandplätzchen« kostete vor einem Jahr noch 2,40 Euro.
Heute müssen die Käufer dafür einen Euro mehr auf den Ladentisch legen.
* Aus: Neues Deutschland, 8. April 2008
Hungerrevolten weltweit
Von Arnold Schölzel **
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) in Rom rief am Montag (7. April) die internationale Gemeinschaft »dringend« dazu auf, Gelder für akut erforderliche Hilfen in Haiti bereitzustellen, dem ärmsten Land der westlichen Hemisphäre. Dort hatten Unruhen wegen steigender Preise für Nahrungsmittel Ende vergangener Woche in zwei Tagen vier Menschenleben gefordert. WFP-Exekutivdirektorin Josette Sheeran erklärte: »In dieser entscheidenden Zeit müssen wir den Menschen in Haiti und in anderen Ländern beistehen, die von den steigenden Preisen am stärksten betroffen sind.« Die Organisation wies darauf hin, daß Haiti nur eines von mehreren Ländern ist, in denen es wegen der Teuerung bei Lebensmitteln und Treibstoff in letzter Zeit zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam. WFP nannte Ägypten, Burkina Faso, Indonesien, Elfenbeinküste, Mauretanien, Moçambique und Senegal. Regionale Medien berichten auch von Unruhen in Kamerun, Marokko, Guinea und Guinea-Bissau. Die weltweit gestiegenen Preise für Grundnahrungsmittel verbreiten jedoch in allen Ländern der »Dritten Welt« derzeit Furcht vor Hunger.
Unbeachtet von den Leitmedien des Westens, die seit Wochen vorrangig mit China und Protest gegen Olympische Spiele in Peking befaßt sind, kam es in den letzten Monaten vor allem in den Großstädten der genannten westafrikanischen Länder wiederholt zu Hungerrevolten, Protestmärschen und bei deren Auflösung zu brutaler Gewaltanwendung von Polizei und Militär. In Burkina Faso, wo für den heutigen Dienstag (8. April) ein Generalstreik angekündigt ist, gab es im Februar gewaltsame Proteste. Am Regierungssitz der Elfenbeinküste Abidjan wurde bei Demonstrationen im März ein 25jähriger getötet. Die senegalesische Polizei zerschlug am 30. März gewaltsam eine Demonstration in der Hauptstadt Dakar, wo es seit November zu Protesten gegen die Teuerung kam, und griff Journalisten an, die über den Protest berichten wollten. Filmmaterial wurde beschlagnahmt. Das dürfte das Modell sein, nach dem in allen genannten Staaten derzeit gehandelt wird. Die westlichen Medien fungieren als Fortsetzung der Zensur mit anderen Mitteln.
Nicht mehr zu umgehen waren offenbar nach tagelangem Ignorieren am Montag Berichte über die jüngsten Ereignisse in Ägypten. Der für Sonntag angekündigte und mit brutalen Mitteln unterdrückte Generalstreik mündete in schwere Zusammenstöße. In der nordägyptischen Industriestadt Mahalla el Kobra kam es zu Gefechten zwischen Textilarbeitern und Sicherheitskräften. Rund 100 Menschen erlitten Verletzungen, etwa 200 wurden festgenommen. Die Streikenden behinderten den Zugverkehr und warfen Ziegelsteine auf die Polizei, die Tränengas und Gummigeschosse einsetzte. Nach einigen Berichten gab es vier Tote. In Ägypten hatten sich die Preise für Grundnahrungsmittel in den letzten Monaten fast verdoppelt. Ähnliches gilt für Westafrika, dessen Kollektivwährung CFA fest an den Euro gekoppelt ist.
In seiner Erklärung vom Montag wies WFP darauf hin, daß die steigenden Preise zu weiteren Unruhen führen können. Sheeran erklärte: »Wir begegnen einem neuen Gesicht des Hungers: Selbst wenn Nahrungsmittel in den Regalen stehen, gibt es jetzt immer mehr Menschen, die sie sich einfach nicht mehr leisten können.« Hinzuzufügen wäre: In der Bundesrepublik leben nach jüngsten Berichten etwa 800000 Menschen von den Angeboten der sogenannten »Tafeln« in Großstädten, d. h. von Rest-Lebensmitteln aus Supermärkten.
** Aus: junge Welt, 8. April 2008
Siehe auch: Hungerrevolten in Ägypten
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