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Bangen in der "Straße der Wunder"

In Haiti liegen nach dem schweren Nachbeben vielerorts die Nerven blank. Die Sicherheitssituation hat sich weiter verschlechtert – auch für die Helfer

Von Hans-Ulrich Dillmann, Port-au-Prince *

Fast zehn Tage nach dem schweren Erdbeben in Haiti suchen tausende Menschen weiter nach Überlebenden. Nach dem Jahrhundertbeben fanden Rettungskräfte in den Trümmern anfangs vereinzelt noch immer Lebende – das wird immer seltener.

Drei Minuten nach 6 Uhr bebte am Mittwochmorgen die Erde in Haiti erneut. Halbbekleidete Menschen liefen auf den Flur und in den Hof des Hotelgebäudes in Berthé. Der Stadtteil von Pétionville liegt oberhalb der haitianischen Hauptstadt. »La Resèrve« hat 25 Zimmer, inzwischen finden darin aber jede Nacht rund 80 Personen Unterkunft, die Duschen werden wechselseitig benutzt. Die Mehrzahl der Journalisten und medizinischen Helfer von »Ärzte ohne Grenzen« schlafen seit Tagen auf dem harten Boden des Parkplatzes oder im Garten. In riesigen Zelten kampieren Ärztinnen, Anästhesisten, Krankenhelfer auf dünnen Isomatten. Luxus sieht anders aus.

Wasser gibt es nur stundenweise

Das Stromaggregat war mit lautem Getöse gerade angesprungen. Endlich floss wieder Wasser, das es zurzeit nur noch stundenweise gibt. Das Beben war ein kurzer, harter Schlag, der sich in kleinen Wellen davonschlich. 20 Minuten später nahm das Leben der Hotelgäste wieder seinen normalen Verlauf, obwohl die Nacht erstmals seit dem schweren Beben am Dienstag vor einer Woche für viele unruhig verlaufen war. Weit nach Mitternacht hatte es in unmittelbarer Nähe des Hotels in einem mittelständischen Viertel, in dem auch Botschaften und die Büros von Hilfsorganisationen liegen, einen Schusswechsel gegeben.

»Marodierende Banden« seien jetzt nachts unterwegs und versuchten leer stehende oder einsame Häuser auszurauben, wurde erzählt. Gerüchte verbreiten sich in Haiti so schnell wie ein Erdstoß. In Wirklichkeit entdeckten Wachposten weit nach Mitternacht Personen auf der Straße, die einen oder mehrere Särge aus den Bergen herunterbrachten. Aus Angst, dass die »Verdächtigen« die Särge vielleicht in den Vorgärten der Häuser »entsorgen« könnten, und um sie zu vertreiben, schossen Wachposten in die Luft. Auch im ansonsten so beschaulichen Berthé liegen die Nerven blank.

In der Rue des Miracles, der »Straße der Wunder«, wartet sieben Stunden später Rodin Pierre auf ein Wunder. Wenige Minuten nach dem Nachbeben krachte das Haus Nummer 62, in dem er wohnte, in sich zusammen. Während sich der 34-Jährige auf die inzwischen staubgefüllte Straße retten konnte, blieb seine zweieinhalbjährige Tochter Nia Maïra im Haus zurück. Normalerweise ist die Straße im Zentrum der haitianischen Hauptstadt brechend voll. Menschen drängen sich zwischen Ständen, an denen Billigparfüm, Barbancur-Rum, Gebrauchtschuhe und alte Klamotten verkauft werden.

Jetzt benetzt die Hundeführerin des Teams von »Urban Search And Rescue« aus Deutschland ihrem portugiesischen Wasserhund den Kopf. Aufgeregt streift »Pablo« durch die Schutthalde, die einmal ein dreigeschossiges Gebäude gewesen ist, Gedeckt werden die deutschen »Sucher und Retter in Städten« von USA-Soldaten der 82. Fallschirmspringerbrigade. Frank Schultes' Team ist seit Donnerstag im Einsatz bei der Rettung von Verschütteten. »Anfangs haben wir noch Überlebende aus den Trümmern befreit. Heute haben wir nur noch Tote entdeckt«, sagt Schultes, der die Organisation gegründet hat. Derweil installieren seine Leute Sensoren, um die Kleine zu orten, die noch kurz nach Mittag Lebenszeichen von sich gegeben hatte. »Pablo« schlägt nicht an, ein schlechtes Zeichen und wenig Hoffnung für Rodin Pierre. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, nicht nur für die Retter, denn um 18 Uhr, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, ziehen sich die Rettungstrupps aus aller Welt in die logistische Basis in der Nähe des Flughafens zurück – die Sicherheitssituation hat sich in den letzten 24 Stunden verschlechtert.

Drei Tage zuvor hatten sich Lebensretter darum bemüht, einen Deutschen aus Hamburg unter der eingestürzten Terrasse am Pool des Luxushotels von Port-au-Prince, des »Montana«, zu bergen. Der 28-Jährige konnte nur tot aus den Trümmern frei gegraben werden. Insgesamt vier Deutsche werden laut Auswärtigem Amt noch immer vermisst.

Staubige Schneise der Zerstörung

Durch das Zentrum der haitianischen Hauptstadt zieht sich eine staubige Schneise der Zerstörung vom Meer her bis in die kühleren Berge des nahe gelegenen Pétionville, wo viele Botschaften liegen und die wohlhabenden Haitianer ihren Wohnsitz haben. Rund um den normalerweise in leuchtendem Weiß in der Sonne strahlenden Sitz des haitianischen Staatspräsidenten sind zahlreiche Gebäude eingestürzt. Das Finanzamt, eine Schutthalde. Der Finanzminister wurde tot geborgen. Das Außenministerium, ein Abrissgelände. Das Justizministerium, auf einen Steinhaufen reduziert, im Ministerbüro starben der Chef der Behörde Paul Denis und der bekannte Universitätsprofessor und führende Sozialdemokrat Michel »Micha« Gaillard. Von der berühmten Hauptkathedrale an der Rue Pétion stehen nur noch die Grundmauern, der Erzbischof von Port-au- Prince, Joseph Serge Miot, starb in seinem Büro. Aus dem teilzerstörten Gefängnis sind die rund 5000 Gefangenen geflohen – einige sind für die vereinzelten Plünderungen verantwortlich, die sich inzwischen im Stadtzentrum ereignen.

Der dem Capitol in Washington nachempfundene Präsidentenpalast, in dem sich in den letzten Jahren Politiker die Türklinke in die Hand gegeben haben, so schnell kamen sie zur Macht und verloren sie wieder, ist unter den Wellen der Erschütterung zusammengebrochen, nur die schusssicheren Fenster haben die linke Kuppel davon abgehalten, auch das Amtszimmer von Staatspräsident René Préval zu zermalmen. Er konnte sich retten.

Der Regierungssitz ist über die ganze Länge eingestürzt und reicht kaum mehr über den ersten Stock hinaus. Die mächtige Mittelkuppel, auf der jeden Tag stolz die blau-rote Fahne der ersten unabhängigen Republik in Lateinamerika aufgezogen wurde, ist einfach nach unten geknickt – und jeden Tag rutscht sie weiter in Richtung des einst gut gewässerten Rasens vor dem Gebäude, der mit Schutt überladen ist. Der Regierungspalast selbst wird wohl über lange Jahre nicht mehr den Staatschef beherbergen können – die in diesem Jahr anstehenden Wahlen werden vermutlich nicht stattfinden.

Der Zusammenbruch der Staatsgebäude ist auch Sinnbild für die Krise, die das Armenhaus Lateinamerikas seit Jahrzehnten durchlebt. Finanziell hängt Haiti am Tropf internationaler Kreditgeber und politisch ist das Land zu einem unregierbaren Gebilde geworden – Beute für einheimische Politik und Spielball der Nationen, die das Krisenland »Ayití« angeblich vor der Explosion bewahren wollen. Der Staat ist enthauptet.

Die in Haiti anwesende UN-Friedenstruppe ist ebenfalls kaum handlungsfähig. Das Hauptquartier der Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti (Mission des Nations Unies pour la Stabilisation en Haïti – MINUSTAH), wurde völlig zerstört, über 200 Angestellte werden noch immer in dem Gebäude vermutet.

Geschlafen wird aus Angst im Freien

In Croix des Bossales fiel die Zerstörung weniger krass aus. In dem bevölkerungsreichen Stadtteil, der an die Elendsviertel von Cité Soleil und Wharf Jérémie grenzt, sitzt Valerie Eska auf einer Bank. Das siebenjährige Mädchen ist mit knapper Not dem Tod entronnen. Aber weil in dem Bidonville genannten Slum nur wenig zweistöckige Häuser vorhanden sind, gibt es nicht besonders viele Schäden. Das kleine Mädchen, das bei einer Gastfamilie lebte, war gerade dabei, die Wohnung zu putzen. Sie rannte ins Freie. Nachts schläft die Familie derzeit aus Angst im Freien, Wasser gibt es keins. Valerie schöpft das zusammen, was aus dem Boden heraussickert, faktisch Kloake, denn keiner der rund 100 000 Menschen in dem Karree direkt am Meer besitzt eine Toilette.

Der 25-jährige Jean Mires lebt ein paar Ecken weiter in einer provisorischen Zeltstadt auf einem Fußballplatz in der Nähe des Zentrums der Heilsarmee. Er hat seine Mutter und seinen Vater verloren – und wartet auf Hilfe. Unter dem Anstoßpunkt des Bolzplatzes befindet sich in kaum einem Meter Tiefe ein Massengrab. Die Luft in Port-au-Prince ist inzwischen nicht nur hier schier unerträglich mit Totengeruch erfüllt. »Es ist eine chaotische Situation auch für uns«, sagt er entschuldigend, »wir sitzen richtig in der Scheiße.«

* Aus: Neues Deutschland, 22. Januar 2010

Haiti: Die Wege für Hilfsmaßnahmen sind frei

Fünf Transportrouten an Land aufgebaut / Flughafen und Seeweg offen / Täglich 150 Landungen **

Im Erdbebengebiet von Haiti machen die Hilfsmaßnahmen langsam Fortschritte. Tausende Menschen warten aber immer noch auf Lebensmittel, medizinische Versorgung und Notunterkünfte. Die USA senden weitere Soldaten.

Bei der Hilfe für die Erdbebenopfer in Haiti hält UNGeneralsekretär Ban Ki Moon die Anfangsprobleme neun Tage nach der Katastrophe für überwunden. »Mittlerweile haben wir ein sehr effektives System aufgebaut, um Engpässe zu umgehen«, sagte Ban am Mittwochabend (Ortszeit) in New York nach einem Gottesdienst für die Toten in Haiti.

Ban berichtete von Fortschritten bei der Verteilung der Hilfsgüter. »Wir haben an Land fünf Transportrouten aufgebaut und die Flughafenkapazität erhöht. Was auch immer an Hilfsgütern ankommt, hat jetzt absolute Priorität.« Mittlerweile stehe den Helfern auch der Seeweg offen.

Unterdessen ging die Suche nach Überlebenden weiter. Nach dem Jahrhundertbeben, bei dem womöglich bis zu 200 000 Menschen starben, fanden Rettungskräfte in den Trümmern noch immer Lebende. So konnten spanische Helfer eine 14-Jährige aus ihrem eingestürzten Haus retten. UNNothilfekoordinator John Holmes zufolge sind seit dem Beben am 12. Januar etwa 120 Überlebende geborgen worden. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes werden noch vier Deutsche vermisst. Nach bisherigen Erkenntnissen kamen bei dem Beben vermutlich drei Deutsche ums Leben. Zwei mutmaßlich deutsche Tote müssten noch identifiziert werden.

Insgesamt wurden nach Angaben der EU-Kommission bisher etwa 80 000 Erdbebenopfer beerdigt. Die Zahl der Obdachlosen liege bei zwei Millionen.

Das Deutsche Rote Kreuz schickte bis zum heutigen Freitag (22. Jan.) von Berlin aus zwei weitere Hilfsflüge und ein mobiles Hospital nach Haiti. Nach UN-Angaben landen inzwischen täglich 150 Flugzeuge in Port-au-Prince.

Die Vereinten Nationen wollen die Menschen im Erdbebengebiet für das Aufräumen bezahlen. Ziel des »Cash-for-Work«-Programms (»Bares für Arbeit«) sei, bis zu 220 000 Menschen zu beschäftigen. Die Helfer sollen vor allem Trümmer wegräumen und Straßen reparieren. Dafür sollen sie fünf Dollar am Tag bekommen. Der Internationale Währungsfonds fordert eine Art Marshall-Plan für Haiti.

** Aus: Neues Deutschland, 22. Januar 2010




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