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Hilfe erreicht das Katastrophengebiet

Hunderttausende Haitianer erhalten Essen / Hohe Spendenbereitschaft in Deutschland

Eine Woche nach dem Erdbeben in Haiti machen die Hilfebemühungen Fortschritte. Rund 330 000 Menschen im Katastrophengebiet wurden nach UNO-Angaben mit Essen versorgt.

Port-au-Prince (Agenturen/ND). Es wird geschätzt, dass insgesamt 3,5 Millionen Menschen in Haiti auf Hilfe angewiesen sind. In Deutschland spendeten Bürger bereits mehr als 15 Millionen Euro, wie eine Umfrage bei wichtigen Hilfswerken ergab.

Versperrte Straßen, zerstörte Behörden, auf den Straßen campierende Menschen und Engpässe am Flughafen erschweren weiter die Hilfsmaßnahmen. Benoit Leduc, der Leiter des Einsatzteams von »Ärzte ohne Grenzen», sprach von einem dramatischen Wettlauf mit der Zeit. Ärzteteams operierten in provisorischen Einrichtungen rund um die Uhr. Es seien viele Amputationen notwendig, und viele Menschen würden mit gefährlichen Kopfverletzungen gebracht.

US-Soldaten begannen damit, in schwer erreichbaren Gebieten nördlich der Hauptstadt Port-au-Prince Lebensmittel und Trinkwasser von Hubschraubern abzuwerfen. Der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Rudolf Seiters, sieht die Dominanz US-amerikanischer Rettungskräfte bei der Koordination der Erdbebenhilfe in Haiti als unausweichlich an. Er sehe keine Alternative, Haiti sei offensichtlich hilflos in Sachen Katastrophenmanagement.

Katastrophenhilfe: Militär und Milliarden

Die Vereinten Nationen beabsichtigen, ihre militärische Präsenz in Haiti weiter zu verstärken. Der UN-Sicherheitsrat wollte noch am Dienstag [19. Jan.; siehe unten im Kasten] die Aufhebung der bisherigen Obergrenze für die Blauhelmtruppen in dem Land beschließen, teilte der stellvertretende US-Botschafter bei der UNO, Alejandro Wolff, mit. Die UN-Mission in Haiti habe weitere 2000 Soldaten und 1500 Polizisten angefordert, um die Hilfskonvois und die Verteilung der Güter zu sichern, erklärten UN-Diplomaten.

Auch die USA fliegen zusätzliche Truppen in das Katastrophengebiet, ihre Zahl sollte nach Angaben eines Militärsprechers zunächst auf 12000 steigen. Die Dominikanische Republik hat ein 800 Mann starkes Bataillon angeboten, das ab Ende der Woche die Straße von Port-au-Prince zur dominikanischen Grenze sichern könnte, der einzigen Landverbindung, die Haiti ins Ausland hat. Der französische UN-Botschafter Gerard Araud erklärte, auch die Europäische Union sei bereit, Polizisten zu entsenden.

Entgegen früherer Ankündigungen hat die US-Luftwaffe nun doch begonnen, Hilfsgüter aus der Luft abzuwerfen. Insgesamt habe es sich um 14500 Fertigmahlzeiten und 15000 Liter Wasser gehandelt, die in ein »gesichertes Gebiet« nordöstlich der Hauptstadt Port-au-Prince niedergingen, erklärte eine Sprecherin. Es werde derzeit geprüft, ob sich diese Methode auch für den Rest des Landes eigne. Erst vor wenigen Tagen hatte US-Verteidigungsminister Robert Gates noch geäußert, daß solche Aktionen kurz nach einer Katastrophe nicht sinnvoll seien, weil sie die Gefahr von Unruhen erhöhten, wenn es keine geordneten Strukturen für die Verteilung gebe.

Die haitianische Regierung rechnet nach Angaben der EU-Kommission mittlerweile mit 200000 Todesopfern. Der Präsident der Dominikanischen Republik, Leonel Fernández, schätzt die Kosten für die Unterstützung der Überlebenden und den Wiederaufbau Haitis auf zehn Milliarden Dollar in den nächsten fünf Jahren. (apn/jW)



Bisher sind nach Medienberichten etwa 1000 US-Soldaten in Haiti, ihre Zahl könnte auf bis zu 10 000 steigen. Die leitenden Personen der UNO-Mission mit rund 9000 Blauhelmen in Haiti waren durch das Erdbeben fast alle getötet worden.

Die Vereinten Nationen wollen 3500 weitere Soldaten und Polizisten in das Erdbebengebiet entsenden. Das habe der Sicherheitsrat einmütig auf Antrag von Generalsekretär Ban Ki Moon beschlossen, sagte Chinas UNO-Botschafter Zhang Yesui als derzeitiger Präsident des mächtigsten UNO-Gremiums am Dienstag nach der Sitzung in New York. »Dieses Kontingent setzt sich aus 1500 Polizisten und 2000 Soldaten zusammen. Sie sollen für Frieden und Sicherheit sorgen und beim Aufbau helfen«, erklärte Zhang.

Die Bundesregierung hat 7,5 Millionen Euro an Soforthilfe bereit gestellt. Vertreter deutscher Hilfswerke und der Bundesregierung verständigten sich am Dienstag darauf, die Anstrengungen bei der Gesundheitsversorgung und dem Aufbau von Notunterkünften in Haiti zu verstärken.

Über Plünderungen und Zusammenstöße gab es widersprüchliche Angaben. Das UNO-Büro zur Koordinierung humanitärer Hilfe bezeichnete die Sicherheitslage in der schwer getroffenen Hauptstadt Port-au-Prince insgesamt als stabil. Rot-Kreuz-Präsident Seiters sagte, verzweifelte Menschen bedrängten die Helfer: »Nicht aggressiv, aber verzweifelt, weil sie hoffen, dass sie schnelle Hilfe bekommen. Und das erschwert die Situation außerordentlich.« Bei dem Erdbeben am 12. Januar kamen nach Schätzung der haitianischen Regierung bis zu 200 000 Menschen ums Leben. Nach Angaben von Haitis Premier Jean Max Bellerive wurden bislang 72 000 Tote beerdigt.

Das UNO-Kinderhilfswerk warnte vor vorschnellen Adoptionen von Kindern, die ihre Eltern verloren haben. Die Vermittlung von haitianischen Waisen an Paare im Ausland sollte nur als letzter Ausweg in Betracht kommen, sagte UNICEF-Sprecherin Veronique Taveau in Genf. Zunächst müsse alles daran gesetzt werden, die Eltern oder Verwandte der Kinder zu finden. Auch die Kindernothilfe beteiligt sich an der Erfassung von geretteten Kindern.

Die Interamerikanische Entwicklungsbank kündigte an, Haiti 480 Millionen Dollar Schulden zu erlassen und zusätzlich 444 Millionen Dollar an Krediten oder Zuschüssen zu gewähren. Die USA haben 100 Millionen Dollar zugesagt, die Europäische Union für Not- und Wiederaufbauhilfe 420 Millionen Euro.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Januar 2010


Ärzte oder Soldaten

Während kubanische Mediziner Leben retten, besetzt das US-Militär Haiti

Von Enrique Torres, Port-au-Prince (Prensa Latina) **


Das am Montag gerettete kleine Mädchen Karla Lexandre hat die Hoffnungen der Helfer wiederbelebt, auch eine Woche nach dem Erdbeben doch noch Menschen lebend aus den Trümmern bergen zu können. Experten aus verschiedenen Ländern hatten zuvor praktisch die Hoffnung aufgegeben, daß Menschen diese lange Zeit ohne Trinkwasser unter den Schuttbergen eingestürzter Gebäude überleben könnten. Das gerettete Mädchen wurde in das Universitätskrankenhaus des Friedens in Port-au-Prince gebracht und dort von kubanischen Ärzten behandelt. Mediziner aus fünf Ländern betreiben derzeit das Hospital, unter ihnen die Pädiaterin Gladis Salas, die als eine von mehr als 400 kubanischen Medizinern bereits seit zwei Jahren in dem ärmsten Land des Kontinents arbeitet. Sie berichtete der Agentur Prensa Latina, daß das Mädchen körperlich fast unverletzt gewesen sei, obwohl das Haus, in dem es sich während des Erdbebens aufgehalten hatte, vollkommen in sich zusammenstürzte. »Aber sie ist stark ausgetrocknet. Wir haben begonnen, ihr Flüssigkeit zuzuführen, um ihren Allgemeinzustand zu verbessern und sie besser untersuchen und ihr Leben retten zu können«, so die Kinderärztin.

Die Menschen in Port-au-Prince wollen weniger die mittlerweile überall präsenten Soldaten als vielmehr und ganz dringend Lebensmittel, Wasser, medizinische und technische Unterstützung sowie Gelegenheiten zur Arbeit. Am Dienstag bildeten sich ab den frühen Morgenstunden erneut lange Menschenschlangen an den Hauptverkehrsadern der Stadt. Die Menschen suchten nach einem Stück Brot für ihre Kinder und andere Angehörige, die oft eine weitere Nacht unter freiem Himmel verbringen mußten. Hunderte Opfer der Naturkatastrophe zogen in der Hoffnung zum internationalen Flughafen »Toussaint L’Ouverture«, daß ein Teil der Hilfslieferungen, die dort aus aller Welt eintreffen, irgendwie auch in ihre Hände gelangen würde. Aber die Landebahn des Flughafens gleicht weniger einem internationalen Zentrum zur Verteilung humanitärer Hilfsgüter, als vielmehr einer kampfbereiten US-Militärbasis. Die Präsenz der großen Transportflugzeuge der US-Luftwaffe wäre aufgrund ihre Ladekapazitäten noch nachvollziehbar, aber das Bild wird vor allem von dem massiven Aufmarsch der US-Soldaten geprägt.

»Dieses Land braucht Ärzte, Architekten, Ingenieure, damit sie beim Wiederaufbau helfen. Wir brauchen keine Soldaten, auch wenn das hier einige offenbar glauben«, kritisierte der junge Haitianer Cantón Wilson, der sich seit dem Erdbeben fast ununterbrochen um die Opfer der Katastrophe gekümmert hat. Er studiert noch in Kuba Medizin, wo er sich als Chirurg spezialisieren will. Sein viertes Ausbildungsjahr steht bevor, und er machte gerade Urlaub bei seiner Familie, als die Katastrophe hereinbrach. Wilson entschied sich, in seiner Heimat zu bleiben und zu helfen. Haiti brauche keine »Belagerung«, sondern »Solidarität, Brüderlichkeit und Frieden«, kritisierte der angehende Mediziner den Militäraufmarsch der USA. Am 15.Januar war der Flugzeugträger »Carl Vinson« vor der Küste Haitis eingetroffen. Ihm folgten die Kriegsschiffe »Underwood« und »Normandy« sowie der Hubschrauberträger »Bataan«. Auch 2000 Marineinfanteristen und 3000 Elitesoldaten der 82. Luftlandedivision der US-Armee trafen zwei Tage nach dem Erdbeben in Haiti ein. Ihre Kriegswaffen taugen nur wenig oder gar nicht dazu, die menschlichen und materiellen Konsequenzen der Katastrophe zu lindern. Die haitianischen Behörden befürchten mittlerweile bis zu 200000 Tote, mehr als 70000 wurden bereits in schnell ausgehobenen Massengräbern beigesetzt.

Übersetzung: André Scheer

** Aus: junge Welt, 20. Januar 2010


Amtsanmaßung

US-Besatzung als Katastrophenhilfe

Von Werner Pirker ***


Das Erdbeben auf Haiti hat nicht nur furchtbares menschliches Leid verursacht und gewaltigen materiellen Schaden angerichtet. Es hat Haiti als unabhängigen Staat – zumindest vorübergehend – außer Kraft gesetzt. In das auf dem Inselteil entstandene Machtvakuum sind US-Marines vorgestoßen und haben neben der Hoheit über den Flughafen in Port-au-Prince wichtige Funktionen der Staatsmacht übernommen. Der amerikanische Alleingang ist nicht ohne Kritik geblieben. Paris spricht sogar von einer Annexion des Flughafens. Auch Brasilien, die Führungsnation der UNO-Friedensmission Minustah, fühlt sich übergangen.

Wieder einmal hat sich Washington zu einer »humanitären Intervention« genötigt gesehen. Doch ist dieser Begriff mittlerweile zu einer Chiffre für bewaffnete Aggressionen geworden. Er gehört zum Vokabular westlicher Ordnungspolitik, die auf Regeln fußt, die dem geltenden Völkerrecht direkt entgegenstehen. Auch der »gescheiterte Staat« ist eine solche Kategorie. Wird einem Land eine solche Beurteilung zuteil, kann es um seine staatliche Souveränität auch schon geschehen sein. Natürlich bedarf Haiti in dieser Schreckensperiode einer gewaltigen humanitären Intervention. Aber einer im Wortsinn und nicht in ihrer imperialistischen Bedeutung. Und natürlich liegt in diesen Stunden auf Haiti auch der Staat in Trümmern. Selbst wenn die Regierung Haitis, der die minimalsten materiellen Voraussetzungen zum Regieren abhanden gekommen sind, freiwillig Souveränitätsrechte an die USA abgetreten hat, ist die faktische Besetzung des Inselteils durch amerikanische Eliteeinheiten eine völkerrechtlich fragwürdige Angelegenheit.

Vor allem die Vereinten Nationen dürften sich das nicht bieten lassen. Weil die Überwindung dieser Katastrophe, die von der UNO als die größte in ihrer Geschichte bezeichnet wurde, in den ureigensten Aufgabenbereich der internationalen Staatengemeinschaft fällt. Und weil die UNO über die Einhaltung des Völkerrechts zu wachen hat. In diesem Fall betrifft das die Verhinderung einer Okkupation unter dem Vorwand der Katastrophenbekämpfung. Das heißt: Sämtliche Katastrophenhelfer, auch die bewaffneten aus den USA, müßten der Oberhoheit der Vereinten Nationen unterstellt werden.

Im Augenblick scheint alles auf das Gegenteil hinauszulaufen: auf internationale Hilfe unter dem Oberkommando der US-Army. Das erinnert stark an die in der Bush-Ära aufgekommene Idee, die bewaffneten Funktionen der Weltorganisation an die US-Streitkräfte zu übertragen. Auch hier zeigt sich, daß Barack Obama keineswegs bereit ist, aus dem Schatten der Bush-Krieger herauszutreten. Daß er vielmehr gewillt ist, die US-Hegemonie erfolgreicher als sein Vorgänger zu sichern. Nur Frankreich, das sich als Haitis ehemalige Kolonialmacht selbst zur Führung berufen fühlt, und Brasilien, das auf einer Führungsrolle Lateinamerikas drängt, bieten Washington vorerst die Stirn.

*** Aus: junge Welt, 20. Januar 2010

Security Council authorizes 3,500 more UN peacekeepers for Haiti

19 January 2010 – The Security Council today backed Secretary-General Ban Ki-moon’s call to increase the overall force levels of the United Nations peacekeeping mission in Haiti to support the immediate recovery, reconstruction and stability efforts following last week’s devastating earthquake.

Following his visit on Sunday to the capital, Port-au-Prince, Mr. Ban asked the Council for an additional 1,500 police officers and 2,000 troops to reinforce the mission, known as MINUSTAH, to augment its 9,000 uniformed personnel already on the ground.

The Council, in unanimously adopting resolution 1908, decided that MINUSTAH will consist of a military component of up to 8,940 troops of all ranks and of a police component of up to 3,711 police, and that it will keep the new force levels under review as necessary.

The 15-member body took that action, “recognizing the dire circumstances and urgent need for a response” to the 7.0-magnitude quake which struck Haiti on 12 January, leaving one third of the country’s population of 9 million in need of immediate humanitarian assistance.

Speaking to reporters after the meeting, Mr. Ban voiced his gratitude to the Council for its swift action. “By approving my proposal… the Council sends a clear signal – the world is with Haiti.”

He stressed the need to try to get the extra forces on the ground as quickly as possible. Yesterday UN peacekeeping chief Alain Le Roy said a pledge for 800 troops has already been received from the Dominican Republic and more pledges are expected soon.

The additional forces are needed, Mr. Le Roy said, to escort humanitarian convoys, to secure humanitarian corridors that are being established, and to constitute a reserve force “in case the situation unravels and security deteriorates.”

The earthquake has caused the single greatest loss of life in the UN’s history. The Christopher Hotel, which housed the world body’s headquarters in Haiti, collapsed, while other buildings hosting the UN suffered extensive damage.

Hundreds of UN personnel are still unaccounted for, and among those confirmed dead are Mr. Ban’s Special Representative to Haiti and head of MINUSTAH, Hédi Annabi, as well as his Deputy, Luiz Carlos da Costa, and Acting Police Commissioner Doug Coates of the Royal Canadian Mounted Police.

Last week Mr. Ban dispatched Edmond Mulet, the former Special Representative to Haiti and current Assistant-Secretary-General for Peacekeeping Operations, to the country to assume full command of MINUSTAH in the wake of the disaster.

Source: www.un.org




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