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Haiti lockt Kapitalhaie

Hungerlöhne in "Sweatshops": Präsident Martelly verspricht Aufschwung und animiert globale Konzerne zu Investitionen im Armenhaus am Karibischen Meer *

Haitis Präsident Michael Martelly ist fest entschlossen, aus dem ärmsten Land der westlichen Hemisphäre ein Paradies für ausländische Investoren zu machen. »Haiti ist offen für Geschäfte«, betonte der ehemalige Popsänger (»Sweet Micky«) unlängst bei der Eröffnung eines neuen Industrieparks im Norden des Landes. Im bettelarmen Land auf der zweitgrößten Antilleninsel Hispaniola sollen insgesamt sechs solcher Gewerbegebiete und Freihandelszonen entstehen.

Während Martelly von großem Wandel zu einer nachhaltigen Entwicklung spricht, sehen viele Konzerne in dem Karibikstaat, der die Folgen des verheerenden Erdbebens vom Januar 2010 noch längst nicht verkraftet hat, einen besonders günstigen Standort für ihre sogenannten Sweatshops. Das sind riesige Fabrikhallen, in denen Einheimische schuften und vor allem Textilien für den Export zusammennähen. Die Regierung verspricht ansiedlungswilligen Unternehmen Steuerfreiheit für bis zu 15 Jahren und stellt ihnen weitere erhebliche Vergünstigungen in Aussicht.

Das Interesse an dem Steuerparadies ist derzeit groß. Zu Hunderten ließen sich im November ausländische Geschäftsleute in die Hauptstadt Port-au-Prince einfliegen, um an einer zweitägigen Investorenkonferenz teilzunehmen.

Viele Haitianer hingegen haben die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren. Einige versuchen, dem Elend übers Meer Richtung USA zu entkommen. Erst am Weihnachtsabend war ein Flüchtlingsboot mit mehr als 100 Menschen an Bord vor der Küste Kubas in Seenot geraten. Die dortige Küstenwache konnte 87 Havaristen retten, für mehr als 30 Menschen kam jede Hilfe zu spät.

Nicht nur die Hilfen der Regierung machen das Armenhaus an der Karibik für ausländische Unternehmer attraktiv. Um andernorts obligatorische Arbeits- und Sozialstandards brauchen sie sich hier nicht zu kümmern. »Die Konzerne unterbieten sich geradezu beim Abbau dieser Standards«, stellen kritische Beobachter fest. Auch Haitis Industrieverband, besonders die heimische Textilindustrie, sieht in der akuten Notlage des Landes eine Chance. »Wir dürfen sie nicht verpassen«, erklärte Verbandschef Georges Sassine. Gewerkschaftsarbeit ist in ihren Betrieben unerwünscht.

Der im November eröffnete Caracol-Industriepark im Norden ist der ganze Stolz der Regierung. Er wurde mit US-Steuergeldern (124 Millionen Dollar) sowie mit einem 55 Millionen Dollar-Zuschuß der Interamerikanischen Entwicklungsbank finanziert. »So stellen wir uns den Wandel vor, das nennt man nachhaltige Entwicklung«, erklärte Martelly, als er im Beisein seines Beraters, des ehemaligen US-Präsidenten William (»Bill«) Clinton, das neue Vorzeigeprojekt eröffnete. Auch haitianische und ausländische Medien unterstützen ungeachtet aller Schwierigkeiten, Nachteile und Risiken einhellig den neuen Industriepark sowie Martellys wirtschaftliche Ausrichtung auf ausländische Investitionen.

Dabei haben Haiti und seine Nachbarländer längst erfahren müssen, daß eine auf derartige Produktions- und Entlohnungsmethoden setzende Entwicklungspolitik die Einlösung ihrer Versprechen meistens schuldig bleibt. So hat die Nichtregierungsorganisa­tion Haiti Grassroute Watch (HGW) in ihrem jüngsten Bericht festgestellt, daß der Lohn eines Fabrikarbeiters heute eine geringere Kaufkraft besitzt als in den Jahren der Diktatur von Jean-Claude Duvalier (1971–1986).

In einem Interview mit HGW klagte Evelyne Pierre-Paul, die eigentlich anders heißt und Repressalien durch ihren Boß befürchtet: »Ich komme nicht klar mit meinem Land. Ich bin seit 25 Jahren Fabrikarbeiterin, doch zu einem eigenen Haus habe ich es nicht gebracht.« Die Zwei-Zimmerwohnung, in der sie in Port-au-Prince mit ihren drei Kindern lebte, wurde bei dem Erdbeben vor zwei Jahren zerstört. Seitdem haust sie in der Hauptstadt in einem der vielen hundert Zeltlager für Obdachlose.

Pierre-Paul liegt mit ihrem Tageslohn von umgerechnet 5,90 Dollar über dem Mindestlohn für Fabrikarbeiter von 3,75 Dollar, doch das ist nur ein Viertel des von HGW für Haiti errechneten Existenzminimums für eine Familie. Danach müssen diese Beschäftigten in Port-au-Prince und in einem Industriepark nahe der Grenze zur Dominikanischen Republik die Hälfte ihres Lohns für die Fahrt zur Arbeit und für ein Mittagessen ausgeben.

Das gewerkschaftsnahe, in den USA ansässige Solidarity Center beziffert in einer kürzlich veröffentlichten Studie das lebensnotwendige Monatseinkommen einer haitianischen Familie mit zwei Kindern mit 749 Dollar, das ist das Fünffache des aktuellen durchschnittlichen Monatslohns.

Der Wirtschaftswissenschaftler Camille Chalmers spricht von einer skandalösen Lohnpolitik. »Die Löhne sind ständig gesunken. Sie werden in der Landeswährung Gourde ausgezahlt, doch weil das einstige Selbstversorgerland 50 Prozent seiner Lebensmittel importiert, müssen sie ihren Lebensunterhalt praktisch in Dollar bestreiten«, sagte er zu HGW. 100 Gourde sind umgerechnet knapp 2,50 US-Dollar.

»Es ist nicht nur falsch, es ist verbrecherisch, ausländischen Unternehmen in Haiti reich werden zu lassen und Arbeiter mit Hungerlöhnen abzuspeisen«, fügte Chalmers hinzu. Pierre-Pauls Boß und Textilunternehmer Charles Baker bedauert angeblich, daß er seine Arbeiter nicht angemessen bezahlt. Er und andere haitianische Fabrikbesitzer behaupten jedoch, daß sich ihre ausländischen Auftraggeber, darunter die Weltkonzerne Levi’s, GAP, K-Mart und Wal-Mart, bei einem Anstieg der Löhne unverzüglich nach anderen Billigstandorten umsehen würden. (IPS/jW)

* Aus: junge Welt, 28. Dezember 2011


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