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"Die Hilfe in Haiti wird militarisiert"

Die Krise nach dem Erdbeben hat strukturelle Ursachen. Das zeigt sich auch bei den Hilfsmissionen

Der Anwalt für Menschenrechte Brian Concannon Jr. ist Direktor des Instituts für Gerechtigkeit und Demokratie in Haiti mit Sitz im US-Bundesstaat Oregon. Über die Situation nach dem Beben in Haiti sprach mit ihm für das Neue Deutschland (ND) Harald Neuber.



ND: International läuft die Hilfe für Haiti an, allein die USA wollen 10 000 Soldaten entsenden. Weshalb bessert sich die Lage nicht?

Concannon Jr.: Wir befinden uns in einem Teufelskreis. Internationale Medien berichten immer mehr über drohende Unruhen im Katastrophengebiet. In der Konsequenz wächst bei vielen Hilfsorganisationen die Angst. Sie gehen nicht mehr raus, um den Menschen zu helfen. Die Angst ist bislang unbegründet. Wenn aber nicht bald Hilfe kommt, wenn die Menschen nicht bald das Gefühl haben, dass ihnen Beistand in dieser Lage geleistet wird, dann wird die Verzweiflung unerträglich werden. Wenn den Menschen knapp eine Woche nach dem Beben kein Wasser und Nahrung gegeben wird, dann werden sie sich diese Güter holen.

Auch in den europäischen Medien sind Berichte über drohende Unruhen zu lesen.

Ich glaube nicht, dass es eine organisierte Rebellion gibt. Dieses Bild stimmt einfach nicht mit der Realität überein: Die haitianische Gesellschaft ist sehr friedfertig, es wird viel Wert darauf gelegt, Konflikte kollektiv zu lösen. Ich sehe die Gefahr auf der anderen Seite: Die Hilfsmissionen drohen zu militärischen Stoßtrupps zu verkommen, die Hilfe wird militarisiert.

Wobei die bereitgestellten Hilfsgüter tatsächlich geschützt werden müssen.

Die Menschen vor Ort wissen sehr gut, was sie von wem erwarten können und wie sie sich verhalten. Eine unserer Mitarbeiterinnen, Amber Lynn Munger, hat in einem Gästehaus in Port-au-Prince ein Hilfszentrum eingerichtet. Auf einem nahen Fußballfeld werden nach ihrem Bericht 1300 Erdbebenopfer betreut. Sie schrieb: »Wir haben hier Amputationen und andere sehr schmerzhafte Eingriffe durchgeführt, ohne jegliche Medikamente oder gar Schmerzmittel.« Sie berichtete auch von haitianischen Ärzten und Hilfspersonal aus Belgien und Kuba. »Sie alle leisten wundervolle Arbeit«, heißt es in dem Bericht, »aber es gibt keine Hilfsmittel«. Dieses Material wird entweder auf dem Flughafen gehortet oder es liegt in LKWs, die an der Grenze zwischen der Dominikanischen Republik und Haiti aufgehalten werden. Weder von der Regierung noch von der Blauhelmmission MINUSTAH sei seit dem Beben etwas zu vernehmen, berichtet sie.

Mitunter wird die internationale Hilfe negativ bewertet. Könnte sie schädliche Folgen haben?

Das zentrale Problem ist, dass ein Land wie Haiti, mit labilen Staatsstrukturen, schnell von dieser internationalen Hilfe abhängig wird. Das Ziel muss aber sein, diese staatlichen Strukturen zu stärken. Was geschieht denn, wenn in Haiti die Lager mit Korn aus den USA gefüllt werden? Die US-Farmer bekommen Geld für das Korn, die haitianischen Bauern aber können ihre Produkte nicht mehr verkaufen, wenn nebenan US-Importe umsonst verteilt werden. Das ist in den vergangenen Jahren geschehen. Und seien wir ehrlich: Auch die Hilfsorganisationen müssen sich finanzieren. In Haiti kursiert ein Witz: Wenn ein Minister zehn Prozent eines Hilfsfonds in die Tasche steckt, nennt man das Korruption. Wenn eine Washingtoner Beratungsfirma 40 Prozent absahnt, nennt man das Spesenabrechnung.

Warum ist Haiti so anfällig für die Folgen von Naturkatastrophen, während es im benachbarten Kuba kaum Probleme gibt?

Eben weil der Staat durch die Abhängigkeiten und durch das neoliberale System extrem geschwächt ist. Schon in den vergangenen Monaten und Jahren hat es kein funktionierendes Gesundheitssystem gegeben. Wer oder was soll dann in einer so schweren Krise wie nach diesem Beben reagieren und den Menschen helfen?

* Aus: Neues Deutschland, 18. Januar 2010


Überlebende in Haiti brauchen mehr Hilfe

UNO richtet Zentren für Güterverteilung und Versorgung ein / Bis zu 200000 Tote befürchtet **

Nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti arbeiten internationale Helfer fieberhaft daran, die Versorgung der Überlebenden zu verbessern.

Am Wochenende herrschten weiter chaotische Zustände im Katastrophengebiet, Schwerverletzte warteten vergeblich auf medizinische Behandlung. Die UNO richtete 15 Verteilungszentren in Port-au-Prince ein, wo unter Aufsicht von Blauhelmen Hilfsgüter ausgegeben werden. Bei einem Kurzbesuch in Haiti sicherte US-Außenministerin Hillary Clinton den Überlebenden die Solidarität der USA zu. Die Vereinten Nationen sprachen von der schlimmsten Katastrophe in ihrer Geschichte.

Offiziellen Schätzungen zufolge wurden bislang an die 50 000 Leichen geborgen. Die haitianische Regierung befürchtet bis zu 200 000 Tote. 250 000 Menschen wurden den Angaben zufolge verletzt, 1,5 Millionen sind obdachlos. Insgesamt 70 Überlebende konnten laut UNO seit dem Beben am Dienstag (12. Jan.) aus den Trümmern geborgen werden.

Erschwert wird der Einsatz der internationalen Helfer durch einen akuten Treibstoffmangel im Katastrophengebiet. Viele Fahrzeuge und Helikopter könnten deshalb nicht eingesetzt werden, sagte Elisabeth Byrs, Sprecherin des UN-Büros zur Koordinierung humanitärer Hilfe. Zudem behindere das administrative Chaos die Rettungsarbeiten.

Erleichtert werde die Arbeit aber dadurch, dass mittlerweile Militärs und andere Helfer den Schutt von den Straßen räumten, sagte Byrs. Immer mehr Wege seien für Rettungskräfte und humanitäre Konvois passierbar. Zwischen Haitis Hauptstadt Port-au-Prince und der Hauptstadt des Nachbarstaates Dominikanische Republik, Santo Domingo, sei ein humanitärer Korridor errichtet worden. Die Vereinten Nationen riefen die Staatengemeinschaft zu Spenden von insgesamt 562 Millionen Dollar auf. Bisher hat die internationale Gemeinschaft laut UN 268,5 Millionen Dollar für Haiti zugesagt.

Clinton wies bei ihrem Kurzbesuch Kritik am Hilfseinsatz der US-Armee in dem Karibikstaat zurück. Haiti und Frankreich hatten sich zuvor über die schleppende Abfertigung der Hilfsgüter am beschädigten Flughafen von Port-au-Prince beschwert. Der Flughafen wird auf Bitte der haitianischen Regierung seit Donnerstag von US-Soldaten verwaltet. Die US-Armee hat bislang 4200 Soldaten nach Haiti geschickt, weitere 6300 Militärangehörige sollen bis diesen Montag nach Port-au-Prince entsendet werden.

Am Wochenende kam es in Port-au-Prince vereinzelt zu Plünderungen, berichteten lokale Medien. Für die ausländischen Helfer bestehe allerdings bisher keine Gefahr, teilte Tommy Ramm von der Diakonie Katastrophenhilfe aus Haiti mit: »Wir erleben keine Feindseligkeiten in unserem Umfeld.«

Der UNO-Sicherheitsrat wird sich an diesem Montag auf Initiative Mexikos in einer Sondersitzung mit Haiti befassen. Ziel sei es, die Rolle der Vereinten Nationen in Haiti zu stärken. Zugleich wird heute in der Dominikanischen Republik eine internationale Konferenz zum Wiederaufbau Haitis beginnen. Neben Haitis Präsident René Preval werden Vertreter der EU, der USA und lateinamerikanischer Staaten erwartet. Die UNO bestätigte den Tod ihres Missionschefs in Haiti, Hedi Annabi, sowie seines Stellvertreters Luiz Carlos da Costa. Die Leichen wurden in den Trümmern des eingestürzten UN-Hauptsitzes in Port-au-Prince gefunden.

** Aus: Neues Deutschland, 18. Januar 2010


Warten auf Hilfe ***

Hunderttausende Menschen haben am Wochenende in Haiti weiter auf Hilfe gewartet. Unter chaotischen Umständen verteilten die UNO und internationale Hilfsorganisationen Lebensmittel, Trinkwasser und andere Hilfsgüter. Wiederholt kam es auch zu Plünderungen von Geschäften und Lebensmittellagern. In Port-au-Prince eröffnete die Polizei am Sonntag das Feuer auf eine Gruppe von Hungernden und tötete mindestens einen, nachdem Hunderte Menschen einen Supermarkt gestürmt hatten.

Haitis Präsident René Preval dankte der internationalen Gemeinschaft für die schnelle Unterstützung, kritisierte jedoch deren fehlende Abstimmung. »Wir brauchen die internationale Hilfe, aber das Problem ist die Koordination«, sagte er. »Wir werden die Spender bitten, mit den Komitees zusammenzuarbeiten, die wir im Rahmen der Regierung bilden werden, um die Verteilung der Hilfe effizienter zu gestalten«, sagte Preval.

Die Spendenbereitschaft ist gerade unter den lateinamerikanischen Staaten weiterhin gewaltig. So kündigte Boliviens Präsident Evo Morales am Sonnabend an, sein Land werde das Wenige, das es habe, mit Haiti teilen. Die erste Hilfslieferung aus dem selbst bitterarmen Andenstaat sollte am Montag morgen (Ortszeit) in Haiti eintreffen. Morales schloß auch nicht aus, selbst nach Haiti zu reisen. Aus Venezuela machten sich am Sonntag zwei Schiffe mit mehr als 1000 Tonnen Lebensmittel und Trinkwasser auf den Weg nach Haiti.

US-Truppen haben unterdessen die Kontrolle über den völlig überlasteten Flughafen der Hauptstadt Port-au-Prince übernommen. Außenministerin Hillary Clinton kündigte an: »Wir werden heute, morgen und in Zukunft hier sein«. US-Admiral Mike Mullen erklärte, mehr als 10000 Soldaten in und um Haiti zu stationieren, um die Verteilung der Lebensmittel zu koordinieren und Unruhen zu verhindern. Regierungschefs der Region befürchten jedoch, daß das Engagement Wa­shingtons auch dazu dient, langfristig die Kontrolle in dem Karibikstaat zu übernehmen. »Sie manipulieren ein Drama, um nordamerikanische Truppen in Haiti zu stationieren«, kritisierte Nicaraguas Präsident Daniel Ortega am Freitag abend gegenüber der sandinistischen Zeitschrift El 19. »Es ist völlig unlogisch, daß nordamerikanische Truppen in Haiti landen. Was Haiti fordert, ist humanitäre Hilfe, keine Truppen. Es wäre doch Wahnsinn, wenn wir alle anfangen würden, Truppen nach Haiti zu schicken.«

Nach Schätzungen der haitianischen Behörden und der Weltgesundheitsorganisation WHO kamen bei dem Erdbeben am Dienstag bis zu 50000 Menschen ums Leben, 250000 weitere wurden verletzt. Etwa 1,5 Millionen Menschen wurden obdachlos. Haitis Ministerpräsident Jean-Max Bellerive sagte der Agentur AFP am Sonnabend, bislang seien 25000 Todesopfer geborgen und beerdigt worden.

*** Aus: junge Welt, 18. Januar 2010


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