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Leben mit den Trümmern

Zwei Jahre nach dem Erdbeben geht in Haiti der Wiederaufbau nur schleppend voran

Von Hans-Ulrich Dillmann, Santo Domingo *

Am 12. Januar 2010 bebte in Haiti gewaltig die Erde. Der Wiederaufbau des armen Landes kommt nur langsam voran: Eine politische Dauerkrise und eine todbringende Cholera-Epidemie verhindern bisher die Rückkehr zur Normalität.

Nur ein ungläubiges Kopfschütteln hat Stefanie Gilleaume auf die Fragen parat, was sich seit dem schweren Erdbeben vor zwei Jahren für sie zum Guten verändert hat. Was soll sie auch antworten? Sie und ihre Familie konnten gerade mal das nackte Leben retten. Seitdem campieren sie in einem Zeltlager in der näheren Umgebung des internationalen Flughafens von Port-au-Prince: Seit 730 Tagen ist das neue Zuhause der 19-Jährigen eine Zeltplane über knapp zehn Quadratmetern. Die gemietete Hütte ist zerstört. Ohne eigenes Grundstück gibt es keine Chance, ein richtiges Haus zu beziehen. Seit 730 Tage muss die Abiturientin Wasser aus einem provisorischen Tank holen, sich mit Hunderten ein Dixi-Klo teilen. »Überhaupt nichts hat sich geändert«, sagt Stefanie resigniert.

Aus der Sicht der rund 550 000 Menschen, die wie Stefanie noch in rund 9800 Notunterkünften in und nahe der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince leben müssen, hat sich wirklich nicht viel verändert. Sie sind auf Lebensmittel- und Wasserlieferungen von Hilfsorganisationen angewiesen, sind häufig traumatisiert und meist ohne therapeutische Betreuung. Und von Arbeit können die meisten nur träumen.

Port-au-Prince ist auch zwei Jahre nach dem »großen Grollen« noch immer ein riesiger Trümmerhaufen. Schuttberge in Delmas, im Stadtzentrum, in Bel Air und Canapé Vert. Dazwischen haben sich die Menschen eingerichtet - und sind in all dem Chaos zur Tagesordnung übergegangen. Leben in prekären Verhältnissen war schon vor der Katastrophe das tägliche Brot der Mehrheit der zehn Millionen Landesbewohner, rund zwei Drittel müssen den Lebensunterhalt von weniger als einem Euro täglich bestreiten.

Dass der Wiederaufbau einer Mammutaufgabe gleicht, ist angesichts der Dimension des Erdbebens verständlich: Bei den 50 Sekunden dauernden Erdstößen von der Stärke 7,2 starben schätzungsweise 316 000 Menschen, eine etwa gleich große Zahl wurde verletzt und 1,85 Millionen Menschen wurden obdachlos. So gesehen ist es ein Erfolg, dass 1,3 Millionen Menschen wieder ein - wenn auch behelfsmäßiges - Dach über dem Kopf haben, Tausende mit amputierten Gliedmaßen dank Prothesen wieder laufen, greifen und sich bewegen können.

Erschwert wird der Wiederaufbau durch den politischen Zusammenbruch und die Begehrlichkeiten korrupter Politiker, die angesichts von mehreren Milliarden Euro Soforthilfe deutlich wurden. Seither ist Port-au-Prince Boomtown. Die Mieten können sich nur noch ausländische Katastrophenspezialisten und Hilfsorganisationen leisten. Sie müssen aus den Hilfsgeldern finanziert werden. Autovermieter und Autohändler verdienen sich goldene Nasen an den eingeführten Allradfahrzeugen - das ist die andere Seite der Hilfsmedaille.

Das Elend nach dem Beben ist längst zu einem Riesengeschäft geworden - sowohl für internationale Organisationen als auch für die politische Elite Haitis. Ein Drittel der 1,2-Milliarden-Dollar-Hilfe aus den USA ging für den Einsatz der US-Armee drauf, der geringste Teil floss in den direkten Aufbau. Ohnehin fließt laut UNO rund ein Drittel der Hilfe an die Geberländer für deren Organisationen zurück.

Mit langer Verzögerung hat in Haiti eine neue Regierung die Geschäfte aufgenommen und die überforderte und korrupte Regierung René Prévals abgelöst. Anlass für Optimismus gibt es wenig. Präsident Michel Martellys Credo lautet: ausländische Investitionen in Billiglohn- und Touristenenklaven. Enge Berater Martellys (alias »Sweet Micky«) kommen aus dem Familienkreis des Exdiktators Jean-Claude Duvalier (1971-1986). Nun soll aus dem Staatshaushalt sogar der Wiederaufbau der Armee finanziert werden, die wegen ihrer unheilvollen Rolle bei der Unterdrückung der Bevölkerung aufgelöst worden war. Gelder, die beim Bau von Häusern für die Obdachlosen fehlen werden. Haitis Bilanz ist dürftig, 730 Tagen nach jenem 12. Januar, an dem 50 Sekunden lang die Erde bebte.

* Aus: neues deutschland, 12. Januar 2012


Vergessene Katastrophe

Zwei Jahre nach dem Erdbeben ist die Lage in Haiti weiter dramatisch **

Zwei Jahre nach dem verheerenden Erdbeben ist Haiti von Normalität weit entfernt. Bei der Naturkatastrophe am 12. Januar 2010 waren Schätzungen zufolge bis zu 300000 Menschen ums Leben gekommen, mehr als 1,3 Millionen Menschen verloren ihre Wohnungen. Mehr als eine halbe Million von ihnen lebt bis heute in Zelten und anderen Notunterkünften, teilte die Hilfsorganisation World Vision mit. Die internationale Gemeinschaft habe mit 4,6 Milliarden Dollar bislang nicht einmal die Hälfte der zugesagten Hilfsgelder ausgezahlt, kritisierte der Verein weiter.

»Haiti sieht heute aus, als habe sich das Erdbeben vor zwei Monaten ereignet, nicht vor zwei Jahren«, berichtet das nordamerikanische Onlinemagazin »Dissident Voice«. Grund dafür sei unter anderem, daß Hunderte Millionen Dollar Hilfsgelder nicht den Opfern zugute gekommen seien, sondern in den Kassen von Nichtregierungsorganisationen, Privatunternehmen und der US-Administration gelandet seien. So habe sich Washington seinen Einsatz nach dem Erdbeben bezahlen lassen. Die USA hatten unter anderem Kriegsschiffe vor die haitianische Küste entsandt, um Flüchtlinge abzufangen, die vor dem Elend in die USA zu flüchten versuchten. Trotzdem wagen immer wieder zahlreiche Menschen die gefährliche Reise. Erst am Weihnachtsabend war ein Flüchtlingsboot mit mehr als 100 Menschen an Bord vor der Küste Kubas in Seenot geraten. Die kubanische Küstenwache konnte 87 Schiffbrüchige retten, für mehr als 30 Haitianer jedoch kam jede Hilfe zu spät.

Die Situation wird von der noch immer wütenden Choleraepidemie erschwert, der seit ihrem Ausbruch einige Monate nach dem Beben mehr als 7000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Eine halbe Million Menschen haben sich angesteckt. Viele der Betroffenen machen die UN-Stabilisierungsmission MINUSTAH für die Seuche verantwortlich. Unmittelbar nach dem Ausbruch der Krankheit war der Verdacht aufgekommen, UN-Soldaten aus Pakistan hätten sie eingeschleppt. Die Vereinten Nationen bestreiten die Vorwürfe.

Das Verhältnis der Haitianer zu den seit 2004 in dem Karibikstaat stationierten Blauhelmen ist bereits seit Jahren angespannt. Wiederholt waren die Uniformierten gewaltsam gegen Protestdemonstrationen vorgegangen. Mitte vergangenen Jahres erschütterte die Vergewaltigung einer jungen Haitianerin durch UN-Soldaten aus Uruguay den Karibikstaat, und im Dezember wurden drei Jugendliche offenbar von brasilianischen Blauhelmen mißhandelt.

Für ausländische Konzerne ist Haiti hingegen ein Paradies. Sie sehen in dem bitterarmen Land einen besonders günstigen Standort für ihre sogenannten Sweatshops, riesige Fabrikhallen, in denen Einheimische schuften und vor allem Textilien für den Export zusammennähen. Die Regierung verspricht ansiedlungswilligen Unternehmen Steuerfreiheit für bis zu 15 Jahre und weitere Vergünstigungen.Gewerkschaftsarbeit ist in solchen Betrieben unerwünscht.

Der im November eröffnete, aus US-Steuergeldern und von der Interamerikanischen Entwicklungsbank finanzierte Caracol-Industriepark im Norden des Landes ist der ganze Stolz der Regierung. »So stellen wir uns den Wandel vor, das nennt man nachhaltige Entwicklung«, erklärte Staatschef Michael Martelly, als er im Beisein des ehemaligen US-Präsidenten William Clinton das Projekt eröffnete. Demgegenüber stellt die Nichtregierungsorganisation »Haiti Grassroute Watch« (HGW) in ihrem jüngsten Bericht fest, daß der Lohn eines Fabrikarbeiters in Haiti heute eine geringere Kaufkraft besitzt als in den Jahren der Diktatur von Jean-Claude Duvalier (1971–1986). Das gewerkschaftsnahe, in den USA ansässige »Solidarity Center« bezifferte in einer Studie das lebensnotwendige Monatseinkommen einer haitianischen Familie mit zwei Kindern mit 749 Dollar, das ist das Fünffache des durchschnittlichen Monatslohns.

(jW-Bericht/mit Agenturen)

** Aus: junge Welt, 12. Januar 2012

Erdbeben-Hilfe für Haiti

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    Konto-Nr.: 300.000
    Bank für Sozialwirtschaft; BLZ 370 205 00;
    Stichwort: Haiti
AG Friedensforschung und Bundesausschuss Friedensratschlag
17. Januar 2010





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