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"Lernen ist der Schlüssel für alles"

Jeanne Martin Cissé über die Entwicklung der Frauenbewegung in Afrika

»Die Rolle der Frauen bei der Befreiung Afrikas«, unter diesem Titel luden verschiedene Organisationen zu einem Forum zum Internationalen Frauentag und zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit Guineas nach Berlin ein. Besonderer Gast und nach 50 Jahren erstmals wieder in Berlin: Jeanne Martin Cissé, Vorreiterin der Emanzipation afrikanischer Frauen. Die 82-Jährige war von 1962 bis 1974 erste Generalsekretärin der Panafrikanischen Frauenorganisation. Jeanne Martin Cissé lebt heute in den Vereinigten Staaten. Mit ihr sprach Haidy Damm.*



Neues Deutschland: Frau Cissé, Sie können auf eine lange Zeit als politisch aktive Frau zurückblicken. Auch wenn Sie heute lieber über die Zukunft sprechen, was war für Sie der wichtigste Punkt der Panafrikanischen Frauenorganisation?

Jeanne Martin Cissé: Wir waren ja zunächst nur eine kleine Anzahl afrikanischer Frauen, aber wir haben uns organisiert. Wir Frauen waren in den Befreiungsbewegungen immer an der Seite der Männer, aber im Hintergrund. Wir hatten keine Chance, etwas zu lernen. Also erkämpften wir uns das Recht zu studieren, in Berlin und in Moskau. Dazu kam die Berufsqualifizierung für Frauen. Wir haben Treffen organisiert in Khartum oder Lusaka, wir haben Frauen ausgebildet. Die Männer haben oft gesagt, dafür gibt es keinen Platz, aber wir haben uns den Raum genommen.

Wo steht die panafrikanische Frauenbewegung heute?

Es gibt auch heute noch große Herausforderungen für die afrikanischen Frauen. Auch wenn wir von den europäischen Frauen einiges aus ihrem Kampf für Emanzipation übernehmen können, haben wir doch gleichzeitig andere Siege errungen. Also brauchen wir die europäischen emanzipierten Frauen nicht zu kopieren, wir nehmen uns nur das zum Vorbild, was wir in unser Leben integrieren können.

Welche Herausforderungen meinen Sie?

In vielen afrikanischen Ländern gibt es Hunger, gibt es Krankheiten. Aber diese Probleme können wir überwinden, wenn wir es wollen. Wenn wir es wollen, das ist der entscheidende Punkt.

Worin unterscheidet sich Ihrer Meinung nach die Situation von Frauen heute zu der Zeit, als Sie jung waren?

Junge Frauen heute können sich weiterbilden, nicht nur in Europa. Vor 50 Jahren haben wir bereits über Alphabetisierung gesprochen. Viele Frauen trauen sich auch heute nicht, gerade wenn sie älter sind, in die Schule zu gehen. Das ist eine Schande. Ich selbst habe mir beibringen lassen, mit dem Computer umzugehen. Auch, weil ich zeigen wollte, dass das geht -- selbst im hohen Alter.

Was würden Sie heute jungen afrikanischen Frauen mit auf den Weg geben?

Ich kann immer nur wieder betonen, wie wichtig die Bildung ist. Lernen, lernen, lernen, das möchte ich jungen Frauen mit auf den Weg geben. Es ist der Schlüssel für alles. Denn dann können wir einen eigenen Beitrag zur Gesellschaft leisten. Entwicklung, das ist mehr als Wirtschaftsprogramme, das bedeutet auch Aneignung durch Bildung, Aneignung der Kultur und der Geschichte. Und auch Gesundheitsprogramme und Kinderfürsorge.

Was sind für Sie heute die drängenden Probleme, vor denen Afrika steht?

Zehntausende Kinder verlassen heute unsere Länder und wollen nach Europa. Tausende von ihnen ertrinken für diesen Traum im Meer. Was können wir tun, damit sie bleiben? Es ist ja nicht so, dass sie ohne Grund gehen, sie sind verzweifelt. Wir als Mütter tragen dazu bei, indem wir unseren Schmuck verkaufen, damit sie gehen können. Und wir in der Diaspora tragen dazu bei, weil wir nicht zugeben wollen, dass das Leben hier nicht rosarot ist, dass wir hier hart arbeiten müssen -- auch um Geld in unsere Heimatländer schicken zu können. Wir sitzen hier nicht auf Geldkoffern.

Müssen nicht auch die Fluchtursachen viel stärker bekämpft werden?

Sicher, aber das kann die Regierung nicht allein. Früher gab es beispielsweise eine florierende Landwirtschaft in Guinea. Es gab Reis, Salat, Gemüse. Heute können wir uns kaum selbst ernähren. Auch weil die jungen Menschen in die Städte oder nach Europa abwandern. In den Dörfern bleiben die Alten zurück, die das Land nicht mehr bestellen können.

Momentan werden zwischen den afrikanischen Staaten und der EU Wirtschaftsabkommen verhandelt, die USA bauen ihre militärische Struktur auf dem Kontinent aus, Investoren aus China geben sich die Klinke in die Hand. Wie sehen Sie diese Entwicklungen im Zusammenhang mit der kolonialen Vergangenheit?

Heute haben wir die politische Unabhängigkeit, das ist ein großer Unterschied. Die Situation ist ganz anders als zur Zeit der Befreiungsbewegungen. Heute verhandeln wir als gleichberechtigte Partner. Die anderen haben erkannt, dass sie uns brauchen. Wir brauchen sie, sie brauchen uns. Jeder gibt, was er kann, auf Augenhöhe. Dennoch stehen wir immer noch am Anfang, wir müssen für unsere tatsächliche wirtschaftliche Unabhängigkeit weiter kämpfen.

Sie waren einst von 1976 bis zum Militärputsch 1984 Ministerin für Soziale Angelegenheiten in der Regierung des ersten unabhängigen Präsidenten Guineas, Ahmed Sékou Touré. Seit zwei Jahren gibt es in ihrem Heimatland heftige politische Auseinandersetzungen. Es gab mehrere Generalstreiks, die Gewerkschaften fordern den Rücktritt des Präsidenten, Lansana Conté. Sehen Sie eine Lösung?

Das ist eine schwierige Frage, eine sehr schwierige Frage. Es gibt Momente, in denen ich über die Situation verzweifele, auch wenn ich eigentlich kämpferisch bin. Es gibt keine Fortschritte, das tut mir sehr weh. Das Volk hat das nicht verdient.

* Aus: Neues Deutschland, 11. März 2008


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