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"Wir brauchen einen echten Wandel"

Álvaro Colom will die Gewalt in Guatemala überwinden und den öffentlichen Sektor stärken / Abkehr vom Neoliberalismus?

Álvaro Colom, der Kandidat der sozialdemokratischen Zentrumspartei UNE, hat es im dritten Anlauf geschafft. Der hagere Mittfünfziger und Kettenraucher Colom wird neuer Präsident Guatemalas. In den 90er Jahren bekleidete Colom verschiedene Regierungsämter, war Vizewirtschaftsminister und leitete das »Land für Frieden«-Programm, durch das ehemaligen Guerilleros Land zugewiesen werden sollte. Während des Wahlkampfes hatte Markus Plate für das "Neue Deutschland" die Gelegenheit, sich mit Colom in Guatemala-Stadt zu unterhalten.



ND: Wer ist Álvaro Colom? Diese Frage bewegt nicht nur europäische Kommentatoren. Mal sind Sie Zentrumspolitiker, mal Sozialdemokrat, mal Linker, mal ist Ihre UNE, die Nationale Einheit der Hoffnung, einer der für Guatemala so berüchtigten Präsidenten-Wahlvereine, mal ein ernsthafter Versuch, genau damit zu brechen. Was will Álvaro Colom?

Colom: Wir sind nicht revolutionär oder radikal. Wir versuchen, das Mögliche in einer fragmentierten Gesellschaft zu erreichen, eine Brücke zu schlagen zu einer Transformation, zu einem Sozialstaat, zu einem öffentlichen Staat. Das ist vielleicht nicht der Traum aller. Aber es ist der Wunsch vieler, die eine Regierung wollen, die einen tiefgreifenden Wandel einleitet.

Ein tiefgreifender Wandel ist ja schon im vollen Gange. Wenn Sie so wollen, heißt er »neoliberale Globalisierung«. Ihrem Ziel eines Sozialstaates dürfte diese Entwicklung doch entgegenstehen?

Der Neoliberalismus ist ein Versuch ökonomischer Unterdrückung. Die Armut wächst, der öffentliche Sektor wird vernachlässigt. Die staatlichen Institutionen sind kaputt gespart und korrupt. Parallele Machtzentren wie die Militärs, die Unternehmer oder der Drogenhandel, kaufen ganze Parteien. Hier muss ein echter Wandel her, damit die Politik aufhört, nur zum Wohle weniger zu arbeiten.

Ihre Partei hat aber im Kongress für CAFTA – das Freihandelsabkommen mit den USA – gestimmt, das genau dieser neoliberalen Logik folgt. Es dürfte Sie eigentlich nicht wundern, wenn Ihnen die Menschen in dieser Frage misstrauen.

Es hat in meiner Partei zum Thema CAFTA hitzige Diskussionen gegeben. Ich war gegen das Abkommen, die Partei aber mehrheitlich dafür. Wir hatten unsere Zustimmung im Kongress an Bedingungen geknüpft, von denen aber heute die anderen Parteien nichts mehr wissen wollen. Vor allem ging es um Kompensationen für den kleinbäuerlichen Agrarsektor, der nach allem, was wir auch aus Mexiko wissen, am meisten durch das Abkommen bedroht ist. Als Präsident werde ich dieses Thema wieder auf die Tagesordnung setzen.

Sie haben sich auch in diesem Wahlkampf immer wieder auf die Friedensabkommen von 1996 bezogen. Zehn Jahre nach deren Unterzeichnung wissen die meisten Guatemalteken gar nichts mehr von diesen Abkommen und für viele andere sind das tote Paragrafen. Werden Sie die Friedensabkommen wieder aus der Schublade holen?

Ich glaube immer noch, dass die Friedensabkommen für Guatemala richtungsweisend sind. Das Abkommen über die Rechte der indigenen Bevölkerung ist exzellent. Die Umsetzung der Menschenrechtsabkommen lässt auf sich warten. Vor allem aber die sozio-ökonomischen und die Agrarabkommen sind so gut wie unter den Tisch gefallen. So schwelen die Grundkonflikte weiter: zwischen Indígenas und Mestizen, zwischen Armut und Reichtum, zwischen Land und Stadt. Die Lösung dieser Konflikte erfordert den Beitrag aller Guatemalteken und Guatemaltekinnen.

Sie werden als Präsident also die wohlhabenden Guatemalteken mehr in die Verantwortung nehmen?

Solange der Staat nicht nachweist, dass die bestehenden Steuereinnahmen gut investiert werden, lassen sich Steuererhöhungen in Guatemala nicht durchsetzen. Aber wir können auch ohne Steuererhöhungen viel erreichen: Denn zur üblichen Steuerhinterziehung und zur Ineffektivität bei der Eintreibung von Steuern gesellt sich die gewaltige Summe, die der Staat jedes Jahr durch Korruption, Veruntreuung und Schmuggel verliert – unseren Schätzungen zufolge fast eine Milliarde Euro. Um das auszugleichen, müssten wir den Staatshaushalt um 20 Prozent erhöhen. Und da muss eingeschritten werden.

Sie wollen also gegen die Korruption zu Felde ziehen, sicherlich eines der zentralen Themen des Wahlkampfes. Das andere Thema ist die Gewalt. Ihr Kontrahent Otto Pérez forderte eine Politik der harten Hand. Sie hingegen ...?

Ich sage, die Gewalt in Guatemala hat nicht nur eine Wurzel, die wir einfach so ausreißen könnten. Sie hat viele Ursachen: die Armut und fehlende Perspektiven, das Trauma der Diktatur. Die Reduzierung der Armeestärke, so wie sie in den Friedensabkommen vereinbart wurde und mit der ich auch sehr einverstanden bin, diese Reduzierung ist in einer Form umgesetzt worden, die ganze Landesteile dem Drogenhandel überlassen hat. Ganz bewusst, behaupte ich! Die Mafia hat heute reale Macht, kontrolliert die mittleren Ränge des Staates, der Polizei, viele Rathäuser und Abgeordnete. Der alte Aufstandsbekämpfungsapparat der Diktatur arbeitet heute für das organisierte Verbrechen. Diesen Strukturen sagen wir den Kampf an.

Glaubt man den Zeitungen und den Umfragen, sind Sie aber selbst Teil dieser Strukturen ...

Das ist eine Spielweise der schwarzen Kampagne, die seit vier Jahren gegen mich gefahren wird und zu der auch Drohungen und Mordanschläge gehören – gegen meine Frau, gegen mich selbst und gegen mein Team. Ich hoffe sehr, dass dieser Wahlkampf der letzte ist, der so voller Lügen, Gewalt und Hass geführt wurde.

Gewalt in Guatemala hat viel mit Machismus und Rassismus zu tun ...

Deswegen werden Frauen und Indígenas ein integraler Teil meiner Regierung sein und nicht nur Kosmetik. Das indigene Guatemala hat ein Recht, nicht nur respektiert zu werden, sondern mitzugestalten. Ich wünsche mir, dass meine Präsidentschaft den Weg ebnet, dass in nicht zu ferner Zukunft eine Maya Präsidentin Guatemalas werden kann.

* Aus: Neues Deutschland, 8. November 2007

Zahlen und Fakten

Krieg und Frieden in Guatemala

Gewalt als Mittel in der Politik hat im Guatemala der Moderne eine lange Tradition. 1954 putschte die guatemaltekische Armee gegen den sozialreformistischen Präsidenten Jacobo Arbenz. Seit Anfang der 60er Jahre formierten sich sowohl aus den mestizisch dominierten Universitäten als auch im indigen geprägten Hochland bewaffnete Widerstandsgruppen gegen die Militärdiktatur, aus der sich später die URNG-Guerilla bildet.

Vor allem unter General Efraín Rios Montt erreicht der Krieg seit 1982 die Dimension eines Völkermordes. Armee und paramilitärische Milizen massakrierten hunderte Indígena-Dörfer, fast täglich tauchten in den Straßen der Städte die Leichen von Regimegegnern auf. Bis zum Friedensschluss 1996 kamen über 200 000 Menschen ums Leben, weitere 45 000 verschwanden. Der REHMI-Wahrheitsbericht des damaligen Weihbischofs von Guatemala-Stadt, Juan Gerardi, wies dem Staat und vor allem der Armee 93 Prozent aller Menschenrechtsverbrechen zu.

Die Friedensabkommen von 1996 hatten neben der Wiedereingliederung der Guerilla ins zivile Leben, der Reduzierung der Armee, der Rückführung der Flüchtlinge und der Aufarbeitung des Krieges vor allem die folgenden Ziele: Anerkennung indigener Rechte, Entschädigung der Opfer des Krieges, Lösung der Landfrage und Entwicklung ländlicher Regionen. Das Ausbleiben sozialer Reformen, die alles durchdringende Korruption und der heute mit den Drogenmafias verwobene Aufstandsbekämpfungsapparat der Diktatur gelten als die Hauptursachen der gegenwärtigen Gewalt, der jeden Tag 20 Menschen zum Opfer fallen.

Álvaro Colom war nie selbst Mitglied der Guerilla, sympathisierte aber recht offen mit deren Zielen und war 1999 Präsidentschaftskandidat des Linksbündnisses ANN, zu dem auch die URNG gehörte.
pla




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