An den Ufern des Atitlán-Sees
Im guatemaltekischen Dorf San Juan haben Maya-Frauen die Initiative ergriffen
Von Heidrun Lange *
Auf dem Boden hat Avelino einen Opferkreis aus roten, gelben, weißen und lilafarbenen
Blütenblättern gelegt. Der Priester der Maya-Gemeinde San Andres Itzapa wird ein
jahrtausendealtes Ritual zelebrieren.
Frauen, Männer und Kinder stehen mitten auf dem Platz vor dem Tempel San Simón und schauen
gebannt in die flackernden Flammen der Kerzen auf dem Lehmboden. Sechs Dorfbewohnerinnen in
Festtrachten tanzen um den Blütenkreis und schwenken tönerne Weihrauchgefäße. Nach drei
Umrundungen gehen sie zur hölzernen Figur des Schöpfergottes Maximón, der auf einem Stuhl
unter dem Altar sitzt. Avelino bittet in seiner kehligen Kekchí-Sprache um Schutz, eine gute Ernte,
gesunde Tiere und das Wohlergehen der Gäste seiner Gemeinde.
Der Alltag der Familien, die in dem kleinen Dorf leben, unterscheidet sich kaum von dem ihrer
Vorfahren. Mit Machete und Pflanzstock bauen die Männer mitten im Wald Mais, Bohnen und etwas
Gemüse an. Währenddessen kümmern sich die Frauen zu Hause um die Kinder. Sie kochen über
offenem Feuer, waschen die Wäsche im Fluss und versorgen die Haustiere.
Über die Hälfte der guatemaltekischen Bevölkerung sind Maya-Nachfahren, sie gliedern sich in 21
Stämme mit eigenen Sprachen. Die meisten leben auf dem Lande davon, was ihnen Mutter Erde
schenkt. Armut, Unterdrückung und Ausgrenzung kennzeichnen den Alltag vieler Indígenas.
Jahrtausendealte Maya-Riten haben indes nicht nur in San Andres Itzapa, sondern in vielen Orten
überlebt. Auch in Chichicastenango, wo die Spanier 1540 die Kirche Santo Tomás auf den Stufen
eines Maya-Tempels errichteten. »Chichi« wird die Stadt 2000 Meter über dem Meeresspiegel kurz
genannt. Bekannt ist ihr Markt, der jeden Donnerstag und jeden Sonntag stattfindet. Bis zu 10 000
Indios und genauso viele Neugierige strömen dazu in die Stadt. Marktfrauen lauern an jeder Ecke
auf Käufer für ihre Ponchos, Taschen, bunt bestickte Mützen, Trachtenkleider und wollene Röcke –
kunstvoll gewebt in jedem nur vorstellbaren Muster. Besonders fallen die bestickten Huipiles auf,
traditionelle Blusen, die die Maya-Frauen zu ihren handgewebten Röcken tragen. Wobei sich die
Trachten von Dorf zu Dorf unterscheiden. In San Juan etwa leuchten die Huipiles rot, während sie in
Santa Catarina türkis bestickt und in Santiago Atitlán farbenfroh mit Blumenmustern verziert sind.
Überhaupt scheint die Stadt am Markttag in Farben zu ertrinken.
Es gibt Mangos, Orangen und Melonen, getrocknete Fische und frische Krabben, Haushaltsgeräte,
Blumen und Holzmasken. Zwischen den Ständen kochen die Frauen Hühnerbrühe, über den Platz
schallt das Klatschen der Bäckerinnen, die aus Maisbrei Tortillas formen und auf heiße Bleche
legen.
Männer lachen, reden, trinken, rauchen, dösen. Auf den Stufen der Kirche Santo Tomás sitzen
Mayapriester und Schamanen. Sie schwenken Weihrauchfässchen, streuen Blumen, Kräuter und
Gewürze, murmeln magische Formeln und verbrennen auf offenem Feuer dunkles Harz, dessen
Rauch die Szenerie in einen grauen Schleier hüllt. Gedränge auch im Halbdunkel der Kirche. Ein
katholischer Priester liest die Messe, schwenkt das Weihwasser, verteilt Oblaten. Nur Kerzenschein
erhellt den Raum, die spanischen Gemälde an den Wänden sind längst unter einer Rußschicht
verschwunden.
Auf den Steinplatten knien alte Männer und zünden zu Paaren gebundene Kerzen an. Eine für die
obere, die andere für die untere Welt. Es sind Dorf- und Familienbeauftragte. Sie werden in die Stadt
geschickt, wenn die Ernte zu gering auszufallen oder der Regen die Früchte der Arbeit zunichte zu
machen droht. Mit Hilfe der Schamanen rufen sie die Toten an, damit die es wieder richten.
Am Atitlán-See kann man Maya-Cakchiquel-Frauen beim Weben ihrer Kleidung zuschauen. Auf Hüftoder
Trittwebstühlen stellen sie Blusen, Röcke, Gürtel und Tücher her. Im Laden des Dorfes San
Juan werden die Stücke verkauft: An jedem hängt ein Schild, worauf der Name der Weberin steht.
Nach Abzug von Material- und Energiekosten bleibt den Frauen Geld, über das sie unabhängig von
ihren Männern verfügen können. Die Koordinatorin Rosa Linda Tay ist stolz, dass in ihrer Gemeinde
25 Frauen eine bezahlte Arbeit gefunden haben. »Am Anfang war es schwer, die Männer davon zu
überzeugen, dass wir unser eigenes Geld verdienen«, gesteht die 38-Jährige. Durch die Initiative
der Frauen hat sich im Ort einiges geändert. Gemeinsam mit anderen Dörflern haben sie auch ein
Ökotourismusprojekt gegründet. In den Gassen liegt keine einzige Dose oder leere Flasche. »Das
alles wird bei uns getrennt entsorgt«, berichtet Linda. Besucher lassen sich nicht nur vom
spektakulären Blick auf den See ins Dorf locken, sondern auch von guten und preiswerten Gerichten
in den Speiselokalen. Dort gibt es zum Beispiel gedünsteten Barsch. Manchen davon hat Lindas
Mann gefangen, nachdem er frühmorgens in seinem Einbaum auf den See hinaus gefahren ist.
Der See wird von den mächtigen Vulkanen Atitlán, Tolimán und San Pablo eingerahmt. Friedlich und
ruhig mutet das Gewässer frühmorgens bei Sonnenaufgang an. Fast scheint es, als stehe die Zeit
still. Und doch nähert sie sich unaufhaltsam dem 21. Dezember 2012, wenn nach mehr als 5000
Jahren die Zählung des Maya-Kalenders endet. Ob dann etwas Fabelhaftes, Unangenehmes oder
gar nichts geschehen wird? Linda lächelt, sie ist nicht sicher, ob sie sich davor fürchten muss.
* Aus: Neues Deutschland, 9. März 2009
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