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Das Wissen der Ixil

Eine alternative Universität in Guatemala soll Erfahrungen und Kultur der Mayas bewahren

Von Andreas Boueke *

Die UNO hat den 9. August zum Internationalen Tag der Indigenen Völker ausgerufen. Weltweit gibt es rund 5000 indigene Völker. Häufig werden sie genötigt, sich dem Lebensstil und Bildungsstandard der westlichen Welt anzupassen. Ihre Lebensräume werden eingeengt, ihre Kultur wird durch Großprojekte von Konzernen bedroht.

Noch liegt kalter Morgennebel über den Wäldern des guatemaltekischen Hochlands. In dem Gemeinschaftssaal der Ortschaft Rio Azúl sitzen vierzehn junge Leute und zwei Dozenten auf langen Holzbänken. Einige haben sich in bunte Decken gewickelt. Durch die großen, offenen Fenster bläst nicht nur der kalte Wind, sondern auch zwitschernde Vögel fliegen ein und aus. Aber davon lassen sich die jungen Leute nicht stören.

Ihr Seminar über lokale Entwicklung ist Teil des Ausbildungsprogramms der Universität Ixil. Vor zwei Jahren gegründet, bietet sie eine kostenlose Alternative für junge Leute, die es den Besuch eines teuren, privaten Instituts nicht leisten können. Bisher hat die Universität Ixil Ableger in 20 Gemeinden. Man trifft sich in privaten oder kommunalen Räumen.

Bauern und Lehrer

Während des Seminars wird vorwiegend Ixil gesprochen, die Muttersprache der Studierenden. Der 23-jährige Sebastian Solis referiert über die Müllentsorgung in Rio Azúl. Damit entspricht er der Philosophie der Universität, wissenschaftlich fundierte Lösungsansätze für die Probleme vor Ort zu erarbeiten. »In der Sekundarschule sollte ich viel über die Geschichte Europas lernen«, erinnert sich Sebastian. »Davon habe ich nichts behalten. Hier an der Universität Ixil erfahren wir etwas über unsere eigene Welt.«

Die Lerngruppe in Rio Azúl kommt jede Woche zweimal zusammen. Ihr Dozent, der Historiker Diego Ceto, unterrichtet Ökologie und die Geschichte Volkes der Ixil, dem heute rund 100 000 Menschen angehören. »Wir bieten ein alternatives Modell zur kolonialistischen, rassistischen Bildung in Guatemala«, sagt Ceto.

Weit weniger als die Hälfte der erwachsenen Ixil-Bevölkerung hat einen Grundschulabschluss. Doch wer an der Universität Ixil studieren will, muss zumindest ein Jahr lang an einer Sekundarschule gelernt haben. Der Student Vicente Raymundo hat sogar schon seinen Schulabschluss. Der 24-Jährige könnte als Grundschullehrer unterrichten, arbeitet aber auf dem Feld seiner Familie. »Bisher habe ich keine Stelle gefunden. Am liebsten würde ich beides machen, unterrichten und auf dem Feld arbeiten. Es ist wichtig, die eigene Nahrung zu produzieren. Wenn du zudem noch einen Teil deiner Produkte verkaufst, kannst du deine Familie unterstützen. Deshalb darfst du die Arbeit auf dem Feld nie vergessen.«

Insbesondere in der Landwirtschaft überdauerten viele Facetten der Kultur der Mayas. Zum Beispiel haben die vorkolonialen Mayas die Frucht der Kakaopflanze angebaut und die Schokolade erfunden. Sie legten die ersten Maisfelder an und wählten Maissorten aus, die von den Ixil noch immer viel häufiger angepflanzt werden als die angeblich verbesserten Sorten aus den USA.

Seit Jahren bemühen sich ausländische Landwirtschaftsberater darum, die Ixil vom Anbau neuer Produkte zu überzeugen. Aber die bleiben lieber bei Mais und Bohnen. Ihre archaisch anmutenden Methoden und Werkzeuge stammen von ihren Vorfahren. Viele Versuche einer Modernisierung sind gescheitert. So existiert ein großer Schatz landwirtschaftlichen Wissens, das die Mayas seit Generationen an ihre Kultur und die natürlichen Gegebenheiten der Region angepasst haben.

Die Universität Ixil will dieses Wissen pflegen, weiterentwickeln und der jungen Generation vermitteln. In seinem ersten Jahr hat das Projekt viel Anerkennung erfahren. Die internationale Organisation »Tierärzte ohne Grenzen« finanziert dem französischen Agronom Benoit Maria eine Stelle, um den Aufbau der Universität zu unterstützen. Er legt seine Rolle als Berater sehr zurückhaltend aus. Die Uni soll nicht den europäischen Wissenschaftsbetrieb kopieren, sondern ein eigenes Konzept entwerfen. »Die technischen Modelle der Landwirtschaft mit ihren Maschinen und den Pestiziden brachten in dieser bergigen Region keine guten Ergebnisse«, sagt Maria. »Vieles wurde zerstört, nicht nur die Umwelt, auch altes Wissen. Die intensive chemische Landwirtschaft schafft schnelle Erfolge. Dann aber werden die langfristigen Schäden offensichtlich.«

Bei den Ixil ist es bis heute üblich, dass die Familien in kleinen Gärten Kräuter und lokale Gemüsesorten für die Selbstversorgung anpflanzen. Diese Pflanzen werden häufig als »Ernte der Armen« bezeichnet. Benoit Maria weiß, dass sie sich in Krisenzeiten als wichtige Elemente der Ernährungssicherung bewähren. »In der Schule wird den Kindern eingetrichtert, dass Kleinbauern arm sind und dass sie es immer bleiben werden. Die Exportwirtschaft gilt als Ausweg aus der Armut. Das Agroexportmodel wird auf allen Ebenen propagiert. So verlieren aber viele Leute das Selbstvertrauen in ihre eigene Arbeit.«

Ein Sprichwort der Ixil sagt, der Tod eines alten Menschen sei wie die Zerstörung eines Wissensschatzes. Um dieses Wissen zu bewahren, haben es sich die Dozenten der Universität Ixil zur Aufgabe gemacht, den Dialog zwischen den Generationen zu stärken. Die Studierenden im ersten Semester dürfen ihre Forschungsarbeiten nicht im Internet recherchieren, sondern sollen die Ältesten ihrer Gemeinde fragen.

Früher war es selbstverständlich, dass die Jungen den Alten und besonders den Mitgliedern des Gemeindevorstands und dem indigenen Bürgermeister Respekt zollten. Heute kennen die jungen Leute häufig nicht einmal mehr die Bedeutung des Amtes, meint Miguel Rivera, Bürgermeister des Dorfs Turanza. Der alte Mann hat Schmerzen beim Gehen. Deshalb benutzt er den mit bunten Bändern und Metallplättchen verzierten Holzstab des Ältestenrats nicht nur als Amtssymbol, sondern auch als Stütze. »Wir sind dankbar für die neue Universität Ixil. Sie ist anders als die kommerziellen Studienorte. Sie will die Ideen unserer Großväter vermitteln, den Respekt gegenüber der Erde, den Flüssen, den Bergen und dem Wissen der Menschen von damals.«

Umstrittene Stipendien

Eine Methode der Entwicklungshilfe ist bei den ausländischen Organisationen im Gebiet der Ixil besonders beliebt: Stipendienprogramme für bedürftige Schulkinder. Doch diese Gelder fließen oft in die Kassen privater Institute westlicher Prägung. Inzwischen sagen viele der Ältesten, diese Stipendien hätten die Kultur der Ixil geschwächt. Die Jugendlichen lernen Dinge, die nichts mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun haben. Wenn sie mit der Schule fertig sind, finden sie keine Anstellung, weil es im Gebiet der Ixil nur sehr wenige formale Arbeitsplätze gibt. Aber auf dem Acker ihrer Eltern wollen die gebildeten jungen Leute auch nicht mehr arbeiten.

Dieses Problem ist relativ neu, meint der Historiker Pablo Ceto. Noch vor wenigen Jahren gab es fast keine Privatschule in der Region. Heute konkurrieren Dutzende Institute: »Den Schülern wird vermittelt, die Landwirtschaft habe keinen Wert«, klagt Ceto. »Aber wir haben unsere eigene Vorstellung von Fortschritt und Entwicklung. Manche glauben vielleicht, wir seien unterentwickelt, weil wir nicht jeden Tag Fleisch essen oder Coca Cola trinken. Aber wir sehen das anders.«

Der Vormittag ist vorbei, das Seminar für heute auch. Die Studierenden packen ihre Stifte und Hefte ein und gehen zurück in ihre Hütten. Einige Studentinnen werden am offenen Feuer das Essen für ihre Geschwister kochen. Die meisten jungen Männer werden ihren Acker pflügen. Aber für den späten Nachmittag haben sich einige verabredet, um mit den Nachbarn über eine bessere Müllentsorgung zu reden.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 8. August 2012


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