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Ökonomie kein Thema

Mr. Tacheles bei Tsipras: Keine Russland-Sanktionen? Schuldenschnitt? EU-Parlamentspräsident Schulz will »keine ideologischen Debatten« führen, sondern Athen auf Kurs bringen

Von Jana Frielinghaus *

Viele Vertreter der deutschen und europäischen Linken zeigen sich angesichts des vom linken griechischen Wahlsieger Syriza eingegangenen Bündnisses mit der nationalistischen Gruppierung »Unabhängige Griechen« (Anel) irritiert bis verstimmt.

Während die meisten Vertreter der deutschen Linkspartei Verständnis fordern und dafür plädieren, nicht den »Lehrmeister« (Gregor Gysi) des neuen Athener Ministerpräsidenten Alexis Tsipras zu spielen, herrscht auf EU-Ebene helle Aufregung. Dabei nimmt selbst die deutsche Brüsseler Linksfraktionschefin Gabriele Zimmer wahr, dass Tsipras angesichts der fehlenden Bereitschaft der korrupten Sozialdemokraten von PASOK, für Schuldenschnitte und gegen die von der Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds oktroyierte Austeritätspolitik zu kämpfen, kaum eine andere Wahl hatte, als mit Anel zusammenzugehen.

Dennoch musste Zimmer nach der Koalitionsentscheidung von Tsipras schon einen Tag nach der Wahl Zensuren verteilen und rügen, er habe »Rechtspopulisten salonfähig« gemacht.

Die Sorgen, die viele Linke mit Blick auf die Perspektiven der von Syriza im Wahlkampf angekündigten Verbesserung der Lage von Flüchtlingen und Migranten haben, sind zwar berechtigt. Auch hier gilt es jedoch abzuwarten, welche konkreten Schritte die neue Regierung mit dem durchaus ziemlich schmuddeligen Partner durchsetzen kann. Der erste scheint bald getan: Bereits drei Tage nach der Wahl beschloss das Kabinett von Tsipras, allen in Hellas geborenen und aufgewachsenen Einwandererkindern die griechische Staatsbürgerschaft zu geben.

Das Troika-Kürzungsdiktat hat in Griechenland zu Massenverelendung und -arbeitslosigkeit, zu einer in diesem Ausmaß nie gesehenen Rezession und damit zum Gegenteil dessen geführt, was die EU unter deutscher Führung vorgeblich erreichen wollte: nämlich einen Abbau der Verschuldung in Relation zum Bruttoinlandsprodukt. Die erhöhte sich seit 2008 von 113 auf sage und schreibe 175 Prozent des BIP. Die Durchschnittseinkommen der »einfachen« Griechen, die laut deutscher Boulevardpresse »unsere« Milliarden verprassen, verringerten sich um 30 Prozent, mehr als die Hälfte der unter 25jährigen sind erwerbslos oder ohne Ausbildungsplatz. Zugleich wurden die Reichsten von der Troika nicht zur Kasse gebeten. Gerettet wurde nur das Geld der Banken, vor allem der deutschen.

Tsipras und Kollegen stehen also wahrlich vor gewaltigen Aufgaben – die sie, wenn überhaupt, nur mit breiter Solidarität von links bewältigen können. Vor diesem Hintergrund wirken Vorwürfe wie jener, den das spanische Linksbündnis Podemos an die neue Regierung richtete, hanebüchen kleinkariert: Dessen Vertreterin Clara Serra verurteilte das Fehlen weiblicher Mitglieder im Kabinett.

* Aus: junge Welt, Freitag, 30. Januar 2015 (Kommentar)


Syriza »irritiert« deutsche Linke

Fraktionschef Gysi und Vize Wagenknecht betonen jedoch Solidarität mit Tsipras

Von Jana Frielinghaus **


Während »Reformer« der deutschen Linkspartei sich »irritiert« über das Bündnis der bei der Parlamentswahl am vergangenen Sonntag siegreichen griechischen Genossen von Syriza mit den nationalistischen »Unabhängigen Griechen« (Anel) zeigten, mahnte die Spitze der Linksfraktion im Bundestag zur Besonnenheit.

Deren stellvertretende Vorsitzende Sahra Wagenknecht sagte gegenüber Spiegel online, Anel sei »ganz sicher kein Front National«, sondern ähnele eher der deutschen CSU. Deshalb solle man »nicht Äpfel mit Birnen vergleichen«. Gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung (Dienstagausgabe) äußerte sie: »Offenbar gibt es keinen anderen Partner, mit dem Syriza ihre Kernforderungen hätten umsetzen können«, so zum Beispiel den »Stopp der Kürzungsdiktate, Bekämpfung der Korruption und Heranziehen der Vermögen der griechischen Oligarchen« zur Überwindung der Haushaltskrise. Und Parteichef Bernd Riexinger betonte gegenüber Spiegel online, die Wahl des Koalitionspartners schmälere »die Freude über den historischen Sieg und die Chance auf ein Ende der Sparpolitik nicht«.

Linksfraktionschef Gregor Gysi erklärte, er habe »festes Vertrauen in Alexis Tsipras«. Bei der Bewertung von Anel dürfe man nicht einfach bundesdeutsche Maßstäbe ansetzen. Gleichwohl betonte er am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Berlin, er habe »beachtliche Schwierigkeiten« mit der Athener Konstellation. Er wolle aber dennoch »nicht den Lehrmeister spielen«. Gysi betonte, er würde es für »apolitisch« halten, wenn die deutsche Linke, die Tsipras jahrelang unterstützt habe, nun auf Distanz gehen würde.

Die Bundesvorsitzende Katja Kipping hatte bereits am Montag klargestellt, eine Kooperation wie die in Athen »käme für die Linke in Deutschland und im Europaparlament nicht in Frage«. Gegenüber Zeit online äußerte sie die Erwartung, dass Syriza »auch in der Regierung bei einem klar antirassistischen Programm bleibt«. Zugleich plädierte sie dafür, sich mit »voreiligen Bewertungen« zurückzuhalten und zeigte Sympathien für die sowohl von Syriza als auch von Anel erhobene Forderung an die BRD, für die von der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg während der Besetzung Griechenlands verantworteten Verbrechen und Zerstörungen Reparationen in Höhe von elf Milliarden Euro zu zahlen.

Gabriele Zimmer wiederum, deutsche Fraktionschefin der Vereinigten Europäischen Linken im Brüsseler Parlament, sagte dem Südwestrundfunk (SWR), sie finde das Zusammengehen von Tsipras mit Anel »ziemlich irritierend«. Sie könne nur hoffen, dass es sich um ein »Bündnis auf Zeit« handele und nur zustande gekommen sei, weil anders die »Leidenssituation« der Griechen nicht hätte beendet werden können. So seien die sozialdemokratische Pasok und die Mitte-links-Partei To Potami offensichtlich nicht bereit gewesen, mit der bisherigen Kürzungspolitik zu brechen. Sie, Zimmer, sei aber trotzdem dagegen, Rechtspopulisten durch Koalitionen »salonfähig zu machen«. Sie erwarte auf EU-Ebene einen baldigen Grundsatzbeschluss, mit dem solche Bündnisse künftig verhindert werden sollen, kündigte Zimmer an.

Stefan Liebich, außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Bundestag, sagte am Donnerstag im Deutschlandfunk mit Blick auf die Ankündigung von Tsipras, weitere Sanktionen gegen Russland nicht mitzutragen, dies sei verständlich, da die Maßnahmen kein sinnvoller Beitrag zur Konfliktlösung seien. Er betonte aber auch, die deutsche Linke sei »nicht die Partei, die an der Seite Russlands steht« und kritisierte Moskaus Vorgehen in der Ukraine-Krise als »falsch und völkerrechtswidrig«.

** Aus: junge Welt, Freitag, 30. Januar 2015


Mr. Tacheles bei Tsipras

Keine Russland-Sanktionen? Schuldenschnitt? EU-Parlamentspräsident Schulz will »keine ideologischen Debatten« führen, sondern Athen auf Kurs bringen

Von Heike Schrader, Athen ***


Griechenland ist mit seinen Bedenken gegen eine Verschärfung der EU-Sanktionen gegen Russland alles andere als isoliert. »Griechenland setzt sich für die Wiederherstellung von Frieden und Stabilität in der Ukraine ein und will gleichzeitig verhindern, dass ein Graben zwischen der Europäischen Union und Russland entsteht«, erklärte der neue griechische Außenminister Nikos Kotzias am Donnerstag bei seiner Ankunft in Brüssel. Im Rahmen des dortigen Treffens der EU-Außenminister hatte er auch ein Gespräch mit seinem ukrainischen Amtskollegen Pawlo Klimkin. Dabei brachte Kotzias seine Sorge über die Gewalteskalation in der Ostukraine zum Ausdruck, in der auch Bürger griechischer Abstammung beheimatet sind.

Bereits im Vorfeld der Ministerrunde hatten Äußerungen aus griechischen Regierungskreisen für Unmut in den tonangebenden EU-Staaten geführt. Die Aussage von Energieminister Panagiotis Lafazanis, Griechenland lehne das Embargo gegen Russland ab, war in der russischen Presse als »Lektion in Demokratie für Brüssel« kommentiert worden. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz erklärte dagegen im Springer-Blatt Bild (Donnerstagausgabe), er werde mit Alexis Tsipras, dem neuen Regierungschef in Athen, »Tacheles« reden. Im ZDF-»Heute-Journal« hatte der deutsche Sozialdemokrat am Mittwoch abend bereits klargestellt: »Man kann nicht auf der einen Seite wie Herr Tsipras verlangen, dass Europa Einigkeit an den Tag legt, wenn es um das eigene Land geht – und als erste Amtshandlung dann die gemeinsame europäische Linie spalten.« Die wirtschaftspolitischen Überlegungen der von der Linkspartei Syriza geführten Regierung konterte Schulz im deutschen TV: Eine Debatte über den Schuldenschnitt sei »völlig überflüssig« und zum jetzigen Zeitpunkt noch viel zu früh. »Ich habe keinen Bock, ideologische Debatten zu führen mit einer Regierung, die gerade mal zwei Tage im Amt ist. Was wir brauchen, das sind pragmatische Lösungen.«

Die Griechen reagierten bestimmt, aber gelassen auf den erhobenen Zeigefinger: »Wir werden sachlich und nicht im Stil der Boulevardpresse miteinander reden«, zitierte dpa einen hohen Funktionär der Tsipras-Regierung. Das griechische Außenministerium hatte bereits zuvor verlauten lassen, Griechenland sei mitnichten der einzige Staat, der Einwände gegen die vorbereitete Erklärung der EU-Außenminister über neue Russland-Sanktionen angemeldet hätte. Unter anderem habe sich auch Zypern dagegen ausgesprochen. Am Donnerstag gingen schließlich die Regierungschefs von Tschechien, der Slowakei und Österreich bei einem Dreiertreffen in der tschechischen Stadt Slavkov (dem früheren Austerlitz) auf Distanz zu einer weiteren Verschärfung der EU-Strafmaßnahmen.

Beim Treffen zwischen Tsipras und Schulz in Athen war aber nicht nur die Haltung Griechenlands zu Russland Thema. Im Mittelpunkt der Gespräche standen vielmehr die Schuldenfrage und der Umgang der neuen Regierung mit den aufgezwungenen Austeritätsmaßnahmen. Tsipras bezeichnete die Unterredung »als wichtig und konstruktiv« für den Aufbau »neuer Vertrauensbeziehungen« zwischen einem neuen Griechenland, das die Auflagen von EU, Europäischer Zentralbank und IWF hinter sich lasse, und den Institutionen der Europäischen Union. Man habe in vielen Punkten Übereinkommen erzielt, über andere müsse man noch reden, erklärte Schulz nach dem Treffen.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 30. Januar 2015

Hier geht es zum Regierungsprogramm von Syriza:

Was die Syriza-Regierung tun wird
Das Regierungsprogramm von Syriza, vorgestellt auf der Internationalen Messe in Thessaloniki am 15. September 2014




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