Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Blut aus Steinen quetschen

Yanis Varoufakis muss den "sittlichen" Steuerstaat Hegels verwirklichen

Von Sabine Kebir *

Blut aus Steinen quetschen« – so bezeichnete der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis seine Aufgabe, Finanzen zu beschaffen, mit denen die Notlage eines beträchtlichen Teils seines Volkes beendet werden kann: Sozialausgaben müssen dringend erhöht und Arbeitsplätze so schnell wie möglich geschaffen werden, damit Land und Leute sich möglichst bald wieder vernünftig selbst versorgen können. Varoufakis hat klargestellt, dass diese Ziele, die für die Syriza-Regierung vordringlich sind, nicht mit Kreditgeldern aus EU-Quellen angesteuert werden können, die umgehend wieder an ausländische »Gläubigerbanken« weitergereicht werden müssen. Geld für ein sozial ausgerichtetes Konjunkturprogramm könnte – wie immer häufiger spekuliert wird – z. B. auch aus Russland oder aus China kommen. Darüber hinaus will die griechische Regierung aber ein Problem angehen, das – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – nirgendwo auf der Welt befriedigend gelöst ist: die im Prinzip überall gesetzlich vorgeschriebene, aber keineswegs realisierte Steuergerechtigkeit, wonach jeder – aber auch wirklich jeder – proportional nach seinem Einkommen besteuert wird und dass Bürger und Körperschaften, die besonders viel Gewinn erwirtschaften, mit höheren Sätzen besteuert werden.

Gegen Steuerparadiese

Es gereicht der bisherigen Konstruktion der EU nicht zur Ehre, dass sie diese seit über 200 Jahren theoretisch im bürgerlichen Recht verankerten Grundsätze nicht nur nicht durchgesetzt, sondern ihre Umgehung durch die Oberschichten und die Großkonzerne mit der bewussten Duldung von Transfers in Steuerparadiese geradezu gefördert hat: Wohlhabende und Konzerne konnten, indem sie sich dort eine Residenz beschafften, nahezu steuerfrei wirtschaften.

Ein dem sozialen Ausgleich verpflichtetes Steuersystem hatte bereits Georg Friedrich Hegel vor knapp 200 Jahren gefordert, sofern sich ein Staat als »sittlich« definieren wollte. Er bezog damit Position im bereits schwelenden Streit mit der u. a. von John Locke begründeten liberalen Tradition, die sozialen Ausgleich über freiwillige Selbstbeschränkung und Gaben der Reichen versprach und auch heute noch verspricht. Locke wollte das Verfügungsrecht der Besitzenden über ihr Eigentum möglichst wenig beschneiden. Die liberale Tradition plädiert bis heute für niedrige Steuern und einen »schlanken« Staat, der lediglich unumgängliche öffentliche Ausgaben finanziert: ein bescheidenes allgemeines Bildungswesen, nur eventuell noch den öffentlichen Verkehr und die Wasserwirtschaft, auf jeden Fall aber das Militär.

Der alte Hegel jedoch gilt besonders in der angelsächsischen Welt als Vorläufer des totalitären Staates, weil er für die effiziente Besteuerung der Besitzenden plädierte. Für ihn war das wichtigste Menschenrecht das Recht auf Leben, das er höher stellte als die aus dem Eigentum entspringenden Rechte. Nichts hielt er von dem liberalen Argument, das arbeitslose Stadtproletariat könne sein Auskommen finden durch mehr Bereitschaft zu harter Arbeit oder gar durch Rückwanderung aufs Land. Und er brach bereits mit der heute noch von vielen, insbesondere der Kapitalseite, verbreiteten Idee, dass die Natur unbegrenzt ausbeutbar sei. Schon ihm war klar, dass der Urbarmachung von Land Grenzen gesetzt sind. Das Zufällige begrenzen

Hegel forderte Gesetze und Institutionen, die das Zufällige und Willkürliche im gesellschaftlichen Raum eingrenzen. Die Ansprüche des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft ergaben sich für ihn unweigerlich auch daraus, dass ja jeder einzelne mündiges »Glied der bürgerlichen Gesellschaft« sein soll. Schon das Kind, das aus Hegels Sicht nicht nur Rechte gegenüber den Eltern, sondern auch der Gesellschaft hat, ist deshalb kein »Eigentum« der Eltern, sondern selbständiges Rechtssubjekt. Der Staat müsse allgemeine Schulpflicht, eine Arbeitslosen- und selbstverständlich auch eine auskömmliche Rentenversicherung einrichten.

Da Hegel weder den Markt noch das Privateigentum grundsätzlich in Frage stellt, will er das materielle Recht des Eigentumslosen über eine ausreichende Erhebung von Steuern durch den Staat herstellen. Während für Locke die höchste staatliche Gewalt diejenige ist, die sich gegen das Eigentum richtet, ist es für Hegel die Gewalt gegen das menschliche Lebensrecht. Und während die liberale Tradition dieses Lebensrecht abstrakt bestimmt, definiert er das Existenzminimum historisch: Es habe sich am jeweiligen allgemeinen Entwicklungsstand des Lebensniveaus zu orientieren. Ginge es heute nach Hegel, gäbe es auch Hartz IV nicht, da sich diese Form der Armenversorgung nicht am durchschnittlichen Lebensniveau orientiert.

Hegel hatte auch erkannt, dass die Vernachlässigung der sozialen Umverteilungsfunktion des Staates die Stärkung seiner Sicherheitsmaschinerie für die Privilegien der Besitzenden hervortreibt, d. h. seine Repressionskraft. Eine hohe Besteuerung der Kapitalseite aber »vermindert den Neid und wendet die Furcht von der Not und der Beraubung ab.« Hegel leitete aus der Priorität des nachhaltigen Rechts auf Leben gegenüber dem Recht des Eigentums sogar ein Notrecht des Hungernden ab, das man modern als Recht zur Enteignung verstehen kann.[1]

Harte Klassenkämpfe

Ob Varoufakis für die soziale Wiedergeburt Griechenlands Geld von europäischen Instituten bekommt, ist fraglich. Fraglich ist auch, ob er die Steuermilliarden, die die griechische Oberschicht seit eh und je und in den letzten Jahren in höherem Ausmaß außer Landes gebracht hat, zumindest teilweise wieder zurückholen kann. Er will sich jedoch auch der Aufgabe widmen, in Griechenland endlich eine Steuergesetzlichkeit durchzusetzen, die schon kurz und mittelfristig für einen stabilen Binnenkreislauf des Geldes sorgt. Das könnte sogar mit dem Euro klappen, wenn die anderen Euro-Staaten durch Kapitalverkehrskontrollen dabei helfen, den Abfluss von Finanzen aus Griechenland zu stoppen. Helfen sie nicht, ist nicht nur die Rückkehr zur Drachme schlechthin geboten, sondern zu einer nur beschränkt konvertiblen, schlimmstenfalls auch zu einer ganz und gar unkonvertiblen Drachme.

Hinter diesen dürren Worten steht freilich eine reale Perspektive harter Klassenkämpfe. Denn nicht nur die, die die größten Gewinne machen, müssten künftig in Griechenland Steuern zahlen. Auch viele Bürger der Mittelschichten müssten mehr Steuern zahlen als bisher. Das würden sie wohl auch tun, wenn sie ähnliches Vertrauen in den Staat setzen könnten wie skandinavische Bürger, die das seit Jahrzehnten klaglos tun. Dass 22 Milliarden Euro von den griechischen Banken abgehoben wurden, seit die Regierung Tsipras im Amt ist, spricht nicht dafür, dass dieses Vertrauen bereits existiert. Um es zu erringen, steht nur ein sehr enges Zeitfenster zur Verfügung. Denn zweifellos werden die Oberschichten versuchen, die Mittelschichten gegen das Hegelianische Steuerprojekt zu instrumentalisieren. Für seine Durchsetzung braucht Griechenland breiteste Unterstützung der anderen Europäer.

Fußnote
  1. Vergleiche Domenico Losurdo: Hegel und die Freiheit der Modernen. Peter-Lang-Verlag, Frankfurt am Main/Berlin/Brüssel 2000
* Aus: junge Welt, Samstag, 14. März 2015


Zurück zur Griechenland-Seite

Zur Griechenland-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage