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Athens Linke am Zug

Regierungsbildung in Griechenland: Konservative gescheitert. SYRIZA-Bündnis übernimmt Verhandlungen. Hoffnung auf weitere Gewinne bei möglichen Neuwahlen

Von Heike Schrader, Athen *

Nach den Parlamentswahlen vom Sonntag hat der Vorsitzende der Linksallianz ­­SYRIZA, Alexis Tsipras, am Dienstag mittag den griechischen Präsidenten Karolos Papoulias aufgesucht, um sich von diesem das Mandat für den Versuch einer Regierungsbildung erteilen zu lassen. Zuvor hatte der Chef der nach der Wahl parlamentarisch stärksten Partei Nea Dimokratia, Antonis Samaras, denselben Auftrag bereits nach einem Tag unerfüllt abgegeben. »Wir haben uns an alle Parteien gewandt, die in Frage kamen, aber sie haben entweder direkt abgelehnt oder die Teilnahme anderer Parteien zur Bedingung gemacht, die dies aber ablehnen«, beschrieb er das Dilemma. Lediglich Tsipras, der PASOK-Vorsitzende Evangelos Venizelos und der Chef der Demokratischen Linken (DIMAR), Fotis Kouvelis, hatten sich überhaupt mit Samaras getroffen, während die nationalistischen Unabhängigen Griechen und die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) Samaras direkt mitteilten, daß sie keinen Grund für ein derartiges Gespräch sähen. Den Anführer der neu ins Parlament gewählten faschistischen Chrysi Avgi (Goldene Morgendämmerung) hatte Samaras erst gar nicht kontaktiert.

Die SYRIZA kündigte am Dienstag an, es werde nach den einzelnen Treffen mit möglichen Koalitionspartnern keine Erklärungen ihres Fraktionsvorsitzenden geben, sondern erst nach Abschluß aller Gespräche. Tsipras hat drei Tage Zeit, eine parlamentarische Mehrheit zu finden. Auch er wird an diesem Unterfangen aller Voraussicht nach scheitern, da sich die ­SYRIZA auf die Bildung einer Linksregierung festgelegt hat. Eine solche käme allerdings selbst dann nicht zustande, wenn die beiden anderen im Parlament vertretenen linken Parteien einer solchen beitreten würden. KKE und DIMAR aber haben einer Koalition mit der ­SYRIZA schon in der Vergangenheit mehrfach eine Absage erteilt.

Die Flinte will der neue Shootingstar auf der politischen Bühne Athens dennoch nicht so schnell ins Korn werfen. Tsipras hat bereits angekündigt, auch mit den bislang nicht im Parlament vertretenen linken und fortschrittlichen Parteien über Möglichkeiten für einen gemeinsamen Wahlantritt sprechen zu wollen. Denn sollten weder er noch der Vorsitzende der drittplazierten PASOK, Evangelos Venizelos, eine Regierung zustande bringen, stehen nach griechischem Recht Neuwahlen an. Bei diesen würde die ­SYRIZA sicherlich darum kämpfen, den Linkstrend zu forcieren und dann als Wahlsieger die derzeit noch von der Nea Dimokratia gehaltenen 50 zusätzlichen Sitze zu gewinnen, die das griechische Recht der stärksten Parlamentspartei vorbehält. Für die Finanzmärkte und die Herrschenden in der EU wäre dies ein Alptraum. Tsipras hatte bereits am Sonntag davon gesprochen, die Wähler hätten die »Botschaft einer friedlichen Revolution« verkündet. »Die europäischen Führungen und insbesondere Frau Merkel sind verpflichtet zu begreifen, daß ihre Politik, die Austeritätspolitik, eine vernichtende Niederlage erlitten hat.«

Bei den Wahlen am Sonntag waren die beiden bislang vorherrschenden Parteien – die konservative ND und die sozialdemokratische PASOK – abgestraft worden. Selbst zusammen haben sie im Parlament keine Mehrheit mehr. Das Linksbündnis ­SYRIZA wurde zweitstärkste Kraft, gefolgt von der PASOK, der ND-Abspaltung »Unabhängige Griechen« und der KKE.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 9. Mai 2012


"Historischer Moment" für SYRIZA

Griechisches Linksbündnis erstmals mit Regierungsbildung beauftragt

Von Anke Stefan, Athen **


Nach dem Scheitern der Konservativen versucht sich jetzt eine linke Partei an der Regierungsbildung in Griechenland. Staatspräsident Papoulias übertrug dem Vorsitzenden des Bündnisses der Radikalen Linken, Alexis Tsipras, am Dienstag ein entsprechendes Sondierungsmandat.

Pünktlich um 14 Uhr Ortszeit empfing der griechische Staatspräsident Karolos Papoulias den Fraktionsvorsitzenden der Linksallianz SYRIZA, Alexis Tsipras, in seinem Büro. »Ich habe Sie hergebeten, um Ihnen das Sondierungsmandat zu übertragen«, sagte Papoulias dem jungen Spitzenpolitiker. »Das Land braucht eine Regierung«, unterstrich der Staatspräsident. »Dies ist ein historischer Moment für die Linke und die Volksbewegung und eine persönliche Verantwortung für mich«, antwortete Tsipras.

Der Vorsitzende der stärksten Partei, Antonis Samaras von der Nea Dimokratia, war am Vortag an der Aufgabe gescheitert, eine parlamentarische Mehrheit hinter sich zu bringen. Zwei der sieben seit Sonntag im griechischen Parlament vertretenen Parteien hatten sich erst gar nicht mit ihm getroffen. Es gebe kein Thema für ein Gespräch, hatte ihm die Generalsekretärin der Kommunistischen Partei Griechenlands, Aleka Papariga, am Telefon erklärt. Und der Vorsitzende der Partei der Unabhängigen Griechen ließ Samaras ausrichten, seine Aussage, eine Koalition mit »den Kollaborateuren« käme für ihn »nicht mal über meine Leiche« in Frage, gelte nach wie vor.

Tsipras hatte Samaras erklärt, eine Koalition mit Parteien, die für die Fortsetzung der Kürzungspolitik stünden, käme für SYRIZA nicht in Frage. Die Gespräche Samaras' mit den PASOK-Sozialisten wiederum scheiterten daran, dass deren Vorsitzender, Evangelos Venizelos, eine Einbindung von SYRIZA zur Bedingung für seine eigene Teilnahme an der Koalition machte. Der Chef der Demokratischen Linken, Fotis Kouvelis, schloss eine Mitwirkung in einer Koalition von Nea Dimokratia und PASOK aus. Die neu ins Parlament gewählte offen faschistische Chrysi Avgi wurde von Samaras dagegen gar nicht erst angesprochen.

Tsipras hat nun drei Tage Zeit, seinerseits eine Regierungsmehrheit zu finden. Eine Stellungnahme werde es erst nach Abschluss aller Gespräche geben, stellte das Pressebüro von SYRIZA klar. Gespräche mit PASOK und Unabhängigen Griechen seien für Donnerstag geplant. Für den heutigen Mittwoch standen neben einem Gespräch mit dem Vorsitzenden der Demokratischen Linken auch Sondierungsgespräche mit den Ökologen-Grünen und der von PASOK-Aussteigerin Louka Katseli gegründeten Gesellschaftlichen Übereinkunft auf dem Terminplan.

Die beiden letztgenannten Parteien waren an der Dreiprozenthürde gescheitert. Bei SYRIZA arbeitet man also wohl bereits an der Vorbereitung der nächsten Wahlen, die unweigerlich anstehen, sollten sowohl Tsipras als auch Venizelos als Vorsitzender der drittstärksten Partei am Sondierungsmandat scheitern.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. Mai 2012


Radikale Versager

Von Wolfgang Hübner ***

Demokratie ist mitunter eine schwierige Sache. Es kann nämlich passieren, dass Parteien an Zulauf gewinnen, die von den bisher herrschenden nicht vorgesehen waren. Dann wird es ungemütlich, und statt über ihre Versäumnisse zu reden, schwadronieren die Verlierer lieber über die Gefährlichkeit der radikalen Kräfte.

SYRIZA, die zweitstärkste Kraft der griechischen Parlamentswahl vom letzten Sonntag, nennt sich selbst Bündnis der radikalen Linken. Es ist eine linkssozialistische Vereinigung, die sich mit grundsätzlicher Kritik am Krisenmanagement ausdrücklich von der abgewirtschafteten sozialdemokratischen PASOK abhebt. Linker und radikaler als PASOK zu sein ist ungefähr so kompliziert wie schlanker zu sein als Ottfried Fischer. Auch der französische Linkskandidat bei der Präsidentenwahl, Jean-Luc Mélenchon, wird gern als radikal eingestuft, weil er sich spürbar von François Hollande unterscheidet.

In Deutschland hat das Wort radikal einen ganz eigenen Klang. Hier schwingt noch immer die Zeit des Radikalenerlasses nach, in der eine SPD-geführte Bundesregierung versuchte, so ziemlich jedes unangepasste linke Denken zu kriminalisieren. Radikal, das gilt als suspekt und umstürzlerisch. Die Radikalen, wollen uns die Politdichter sagen und mischen flott Linke und Nazis, haben keine vernünftigen Konzepte - im Gegensatz zu den vermeintlich seriösen Parteien, die den ganzen Krisenschlamassel mit angerichtet haben. Die Köche der Krise, die Merkels, Sarkozys und Barrosos, das sind die eigentlichen radikalen - Versager.

*** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. Mai 2012 (Kommentar)


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