Die einzige Lösung
Von Mikis Theodorakis *
Mikis Theodorakis, Jahrgang 1925, ist der bekannteste lebende griechische Komponist. Partisan gegen die Deutschen und exiliert unter der Militärdiktatur, war er ein Mann der Linken, mit wechselhaften Beziehungen zu Sozialisten und Kommunisten. Seit Ende der 80er Jahre figuriert Theodorakis als überparteiliche griechische Institution. Unter dem konservativen Premier Konstantinos Mitsotakis wurde er 1990 kurzzeitig als Minister ohne Geschäftsbereich berufen, gleichwohl blieb er ein entschiedener Kritiker des westlichen Militarismus – etwa des NATO-Krieges gegen Jugoslawien und auch des US-Angriffs auf den Irak.
Am 3. Dezember 2013 wurde Mikis Theodorakis zum Ehrenmitglied der Akademie von Athen ernannt. junge Welt dokumentiert an dieser Stelle eine gekürzte Fassung seiner dort gehaltenen Rede. Die Zwischenüberschriften sind hinzugefügt worden.
Sehr geehrter Herr Präsident der Akademie von Athen,
sehr geehrter Herr Generalsekretär der Akademie von Athen,
sehr geehrte Damen und Herren Akademiemitglieder,
sehr geehrte Damen und Herren,
zunächst möchte ich dem Herrn Präsidenten und dem Herrn Generalsekretär herzlich für ihre einführenden Worte danken. Zu Dank bin ich aber auch allen Akademiemitgliedern verpflichtet, die mir die große Ehre erwiesen haben, mir die Möglichkeit einzuräumen, in diesen Minuten vom Podium der höchsten Bildungseinrichtung unseres Landes, der Akademie von Athen, zu sprechen. (…)
Von der ausgeprägten Zersplitterung, unter der Griechenland seit einiger Zeit leidet und die insbesondere heute ein geradezu ausuferndes Ausmaß angenommen hat, geht konsequent die Gefahr aus, daß wir ein Volk ohne Heimat werden. Wie ein vom Baumstamm abgerissenes Blatt, das dem Zorn der Winde ausgeliefert ist. (…)
So sei mir also erlaubt, Ihnen statt der üblichen Rede einen Vorschlag zu unterbreiten; einen Vorschlag, der, wie ich meine, dem Anspruch der Athener Akademie als geistiger Führungsinstanz, als Sprachrohr unseres nationalen Bewußtseins und als erster Verfechterin der Interessen unseres Volkes und Landes durchaus angemessen ist.
Mein Vorschlag läßt sich in einem einzigen Wort zusammenfassen: Neutralität. Und in einer Vision: Daß Griechenland die Schweiz der Kultur und des Friedens werden möge. Eine Vision, die symbolisch untermauert und getragen wird durch die Akropolis von Athen, dem weltweiten Inbegriff von Kultur, durch Olympia und Delphi, den globalen Wahrzeichen des Friedens und der Verbrüderung zwischen den Völkern der Welt.
Freiheitskämpfe
Ich glaube, es ist an der Zeit, daß die Internationale Gemeinschaft der historischen Rolle, die Griechenland bei der Herausbildung der globalen, vor allem aber der westlichen Zivilisation und Kultur gespielt hat, ebenso tätige Anerkennung zollt wie dem Beitrag und der Opfer unseres Volkes am Altar der Freiheit.
Unter anderem wird der Internationale Status der Neutralität die Vision der Freiheitskämpfer von 1821 vollenden, deren Kampf um die Erlangung der Freiheit unvollständig blieb, da sie nicht mit der Erlangung der vollständigen nationalen Unabhängigkeit einhergegangen ist. Freiheit ist das Abschütteln des fremden Jochs. Unabhängigkeit ist die Befreiung von der weitreichenden Einmischung fremder Mächte in die inneren Angelegenheiten des Landes. (…)
Ich glaube, der Umstand, daß die Freiheit, die die Kämpfer von 1821 für uns erstritten und an uns überreicht haben, auch nach fast zwei Jahrhunderten nicht mir der Erlangung der vollständigen Nationalen Unabhängigkeit gekrönt werden konnte, uns zu einem »behinderten« Volk werden ließ, unfähig, nicht nur unseren natürlichen, sondern vor allem auch unseren humanen Reichtum in den entscheidenden Bereichen der Gesellschaft und des Geistes gewinnbringend einzubringen. (…)
Leider haben Großmachtrivalitäten unsere neuere Geschichte seit 1821 unablässig begleitet. So hat unsere strategische Lage mal die eine, mal die andere Großmacht auf den Plan gerufen und sie im Hinblick auf die Wahrung ihrer strategischen Interessen dazu veranlaßt, auf die eine oder andere Art und Weise eine weitreichende Kontrolle über die Gesamtheit unseres nationalen Lebens anzustreben und auszuüben und damit die Rechte auf Eigenverantwortung und Entscheidungsautonomie in den wichtigsten Lebensbereichen unseres Volkes, selbst in Perioden parlamentarischer Demokratie wie der heutigen, einschneidend zu verletzen. Nachhaltige Einflußnahme fremder Großmächte läßt sich etwa in solch wichtigen Ressorts wie in der Landesverteidigung und Diplomatie, in der Ökonomie und Politik nachweisen, in Bereichen also, die gleichsam die wichtigsten und sensibelsten Ausgangspunkte darstellen, aus denen sich die grundsätzliche Orientierung eines Landes ableitet.
Freilich dürfen wir über die strategische Bedeutung Griechenlands hinaus nicht die starke Anziehung unterschätzen, die der Naturreichtum unseres Landes nach außen hin ausübt.
Ausgehend von den drei grundlegenden nationalen Anziehungspolen, die unser Land aufweist, das heißt seiner geostrategischen Lage, seines Naturreichtums und seiner singulären Schönheit, kann der Historiker die richtigen Rückschlüsse für die Ursachen ziehen, die zu den großen Katastrophen der jüngeren Geschichte geführt haben. Zugleich kann er die permanente Unterentwicklung erklären, unter der wir seit Jahrhunderten gezwungen sind zu leben, setzt doch eine ungehinderte ökonomische und soziale Entwicklung die Erlangung und die dauerhafte Etablierung des freien Willens der Bürger unter Bedingungen vollständiger nationaler Unabhängigkeit voraus.
Die historischen und kulturellen Traditionen der Griechen zeichnen sich durch ihre Fixierung auf die Werte der Freiheit und Unabhängigkeit sowie durch die Verteidigung der Menschenrechte aus. In den fast zwei Jahrhunderten unserer nationalen Unabhängigkeit waren und sind sämtliche Kämpfe unseres Volkes und unserer Nation, versehen mit dem Siegel des Kampfes für den Frieden und gegen die Gewalt, dem Zweck untergeordnet, unsere nationalen, sozialen und fundamentalen Rechte zu verteidigen. Heutzutage befinden wir uns mitten in einer Periode allgemeinen Niedergangs. Die großen wissenschaftlichen Entdeckungen, die den Übergang ins elektronische Zeitalter begründen und die eigentlich in den Dienst der Menschheit gestellt werden müßten, so daß sie auf ihrem Weg zu Fortschritt und Wohlstand entscheidende Schritte zurücklegen kann, sind zu Waffen der Unterdrückung und des Obskurantismus in den Händen einer kleinen internationalen Minderheit geworden, die sie gegen die Menschen, die Gesellschaften und die Völker zum Einsatz bringt, mit dem Ziel der Akkumulation astronomischer Gewinne, einer Akkumulation, die sich ihrerseits zu einer globalen Macht neuen Typs entwickelt hat – einer Macht, die auf Unterdrückung beruht und sich barbarisch, obskurantistisch und inhuman gebärdet. (…)
So haben wir mittlerweile den geradezu absurden Zustand erreicht, demzufolge der Wohlstand und Reichtum des einen Volkes nicht nur vom Leid und der Armut, sondern auch von der systematischen Verelendung, Schwächung und mitunter sogar auch von der Zerstörung des anderen Volkes abhängt (…)
Falsche Freunde
Kurz gesagt: Ich denke, daß wir bereits in eine völlig neuartige internationale Ära eingetreten sind, von der ein noch nie dagewesenes Bedrohungspotential ausgeht (…). Insofern lautet die Frage, die sich geradezu notwendigerweise vor uns auftürmt: »Was machen wir?« (…) Meine Antwort läßt sich in nur einem einzigen Wort zusammenfassen: Neutralität.
Vor allem dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben. Heutzutage sind alle Völker in zwei grundlegende Lager gespalten. Das eine Lager besteht aus den potentiellen Tätern und das andere aus den potentiellen Opfern. (…)
Zudem müssen wir endlich begreifen, daß im Rahmen dieser neuen Ausgestaltung der internationalen Szenerie weder wir noch irgendein anderes Volk Immunität genießen und niemand – also auch nicht wir – in dieser Konstellation auf irgendwelche »Freunde« zählen kann. Es gibt keine »Freunde« und folglich auch keine Allianzen vom Typ »nordatlantisch« oder »europäisch«. Zumal wir heute erkennen müssen, daß innerhalb Europas zwischen Allianzen unter Völkern der ersten und der zweiten Klasse unterschieden wird. Zwischen der Allianz der Reichen und derjenigen der Armen. Zwischen Befehlshabern und Befehlsempfängern. Zwischen Unterwerfern und Unterworfenen. Wobei das nur die eine »Zange des Bösen« betrifft: nämlich die Ökonomie. Im Hinblick auf die andere, den Krieg, streift die Gefahr, einem hungrigen Wolf gleich, schon seit Jahrzehnten in unserer Region herum. Ob wir den Balkan betrachten oder den Nahen Osten – alle hier angesiedelten Länder und Völker müssen sich darüber im Klaren sein, daß sie zu den potentiellen künftigen Opfern zählen.
Es muß für uns also schnellstmöglich eine Art von Ausweg offenstehen. Und dieser Ausweg kann nur ein einziger sein: die Neutralität. Er ist natürlich nicht leicht. Aber er ist durchaus aussichtsreich. Und dies, wie ich bereits gesagt habe, dank unserer historischen Vergangenheit und den Kämpfen und Opfern des griechischen Volkes für die Freiheit, insbesondere während des Zweiten Weltkrieges.
Damit mein Vorschlag verständlicher und konkreter wird, bestünde die ideale Zielsetzung nach meinem Dafürhalten darin, unser Land zur Schweiz des Friedens und der Kultur zu entwickeln.
Ich glaube, daß die drei erhabensten Ideen, die von der Menschheit hervorgebracht worden sind – der Sport, der Frieden und die Kultur – nach wie vor lebendig und aktuell und überdies in Griechenland beheimatet sind. Die einzigen Fälle von Völkerverbrüderung und -verständigung finden heutzutage im Sport und in der Kunst statt. (…)
Es ist kein Zufall, daß Delphi in der Antike als Nabel der Welt galt. Bekanntermaßen verehrte man dort gleichberechtigt Apollon und Dionysos, den rationalen und den transzendentalen Geist, das heißt diejenigen beiden Elemente, aus denen, sobald sie sich im Gleichgewicht befinden, Kultur entsteht. (…)
Die Reaktivierung von Delphi als globalem Symbol des Friedens wird dessen wirkliche Dimensionen erst zur Geltung bringen. Denn sie wird dem Unternehmen, den Frieden zu festigen, die Vision der Vereinigung des apollinischen und dionysischen Prinzips hinzufügen als tieferen Grund für die Verteidigung und Festigung des internationalen Friedens, der seinerseits die Prämisse für die Ausbildung des mehrdimensionalen Menschen ist. Mit den Mitteln einerseits des materiellen Wohlstands, andererseits der geistigen Anregung, die uns im Zuge der Vollendung unserer Nationalen Unabhängigkeit im Rahmen der Neutralität zur Verfügung gestellt werden, kann es uns gelingen, Delphi nicht nur als symbolische Friedensinstitution zu etablieren, sondern es darüber hinaus, indem es den Frieden auf die Ebene einer neuen ökumenischen Religion erhebt, als globale Erinnerungsinstanz zu begründen, die die Menschen fortwährend an ihre Verpflichtung gegenüber dem Geschenk des Lebens ermahnt.
Das neutrale Griechenland wird sich zugleich zur Wiege der internationalen Kultur entwickeln. Es genügt nicht, daß eine Nation ihre eigene Kultur hervorbringt. Gerade heute, wo die Welt immer enger zusammenrückt und die Entfernungen zunehmend aufgehoben werden, ist es undenkbar und gleichsam unerwünscht, daß eine Kultur in ihren jeweiligen nationalen Grenzen verharrt oder aber daß nur die Kulturen der reichen Nationen grenzübergreifende Bekanntheit erlangen. Selbst das kleinste Land kann einen Beitrag zur fortwährenden Entwicklung der Kultur und Kunst leisten, deren Rolle darin besteht, den modernen Menschen dazu zu verhelfen, die Wege der Zukunft zu erspüren und die Tradition zu bewahren.
Das neutrale Griechenland wird jedem Volk, das es wünscht, einen geeigneten Raum überlassen, in welchem es seine traditionellen wie zeitgemäßen kulturellen und künstlerischen Errungenschaften präsentieren kann.
Weltkultur
Aufgrund der großen geologischen Vielfalt des Landes mit seiner Inselwelt, seinen Bergen und Ebenen, vor allem aber mit seinen zahlreichen historischen Kultstätten wird es möglich sein, den verschiedenen nationalen Kulturen an verschiedenen Orten eine würdige Heimstätte anzubieten und somit ein einzigartiges kulturelles Kaleidoskop zusammenzusetzen.
Jeder Staat wird die Gestaltung der ihm überlassenen Fläche eigenverantwortlich übernehmen und die für die Präsentation seiner Kultur erforderlichen Bauten eigenständig errichten. Dazu können Konzertsäle gehören, Opern- und Theaterhäuser, Bibliotheken, Amphitheater, Restaurants, Hotels etc. In den jeweiligen Landesrepräsentanzen könnten im Jahresrhythmus große Festivals ausgerichtet und ein durchgängiges kulturelles Programmangebot entwickelt werden.
Aufgrund ihres spezifischen Auftrags sollte die UNESCO ihren Sitz nach Griechenland verlegen. Sollte dies nicht möglich sein, wird sie in Griechenland eine permanente aktive Dependance eröffnen, die in Zusammenarbeit mit Organisationen und Institutionen auf regionaler und lokaler Ebene sämtliche länderspezifischen Kulturprogramme koordinieren wird, so daß der Besucher einen Katalog mit den Programmangeboten aller Völker zur Verfügung hat.
Die antiken Theater von Athen, Epidauros, Delphi, Dodoni, Dion und Philippi werden als feste Austragungsorte von internationalen Festen, Konferenzen, Ausstellungen und Kultur-, Kunst- und Wissenschaftsfestivals etabliert. Zudem werden sämtliche Kulturdenkmäler der altgriechischen, byzantinischen und der neueren Zeit systematisch und wirkungsvoll präsentiert.
Schließlich wird jedes Jahr eine andere griechische Insel zum Ort von Weltjugendtreffen ausgerufen. Ein zentrales internationales Gremium, das ausschließlich aus Jugendlichen bestehen wird, die aus einer Vielzahl von Ländern stammen, wird dabei das Programm für die jeweilige Jugend-Insel entwickeln, ein Programm, das sich den geistigen und kulturellen Austausch, aber auch die Unterhaltung, die sportliche Betätigung und das tiefere Kennenlernen zwischen den Mädchen und Jungen der Welt zum Ziel setzen wird.
Ich glaube, in dem eben Gesagten liegt die wahre Berufung eines Landes wie des unsrigen, mit seinem Reichtum an Geschichte, an Kämpfen für die Freiheit und die Kunst, im Zusammenspiel mit der göttlichen Schönheit der griechischen Natur.
Seiner Lasten und Sorgen entledigt, frei und unabhängig, wird das griechische Volk in der Lage sein, sich von ganzem Herzen dem Frieden und der Kultur zuzuwenden, die ihm beide nach meiner Ansicht ohnehin in den Genen eingeschrieben sind. (…)
Die Freiheit, die Unabhängigkeit, der Frieden, die internationale Solidarität, die Kultur und die Gastfreundschaft sind die grundlegenden Erkennungszeichen unseres historischen Erbes, unserer nationalen Erziehung und unseres individuellen Charakters.
Ich fordere die Akademie von Athen auf und bitte ihre Mitglieder, diesen meinen Vorschlag zu diskutieren, und ich bin davon überzeugt, daß, falls er schließlich angenommen wird, die Athener Akademie nicht nur ihr ohnehin großes Ansehen noch erhöhen, sondern darüber hinaus die internationale öffentliche Meinung dermaßen berühren, begeistern und überzeugen wird, daß sie ihrerseits Einfluß auf die Vereinten Nationen zu entfalten vermag, die die einzig zuständige Instanz für eine Entscheidung von derart weitreichender historischer Bedeutung sein kann.
Das war es, was ich Ihnen zu sagen hatte, und ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
[Übersetzung von Theo Votsos]
* Aus: junge Welt, Samstag, 21. Dezember 2013
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