Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Der Protest wurde militärisch besiegt

Linkspolitiker Alexis Tsipras über die Eurokrise und die Zukunft Griechenlands *


Alexis Tsipras ist erst 38 Jahre alt und hat doch schon so viel für die Linke in Griechenland erreicht. Bei den Parlamentswahlen am 17. Juni schaffte das Bündnis SYRIZA, dem Tsipras seit 2008 vorsteht, mit fast 27 Prozent der Stimmen einen historischen Erfolg. Trotzdem ist SYRIZA in die Opposition gegangen. Als einzige der großen Parteien lehnt das Bündnis die Sparauflagen der Gläubiger ab. Der Bauingenieur Tsipras wurde schon 2004 in den Parteivorstand von Synaspismos gewählt, der größten Partei im Bündnis SYRIZA. Seit zwei Jahren ist er zudem Vizepräsident der Europäischen Linken. Für »neues deutschland« sprach mit ihm Stephan Lindner.


SYRIZA erzielte mit knapp 27 Prozent bei den letzten Parlamentswahlen ein hervorragendes Ergebnis, hat es aber nicht geschafft, stärkste Partei zu werden und die Regierung zu stellen. Was sind die Folgen?

Ich muss zugeben, dass wir anfangs wegen des relativ hohen Ergebnisses gar nicht traurig waren, auch wenn wir in Wirklichkeit verloren hatten. Wir hatten sehr hart gekämpft und den Traum fast Wirklichkeit werden lassen. Es war, als würde Kamerun in das Finale der Weltmeisterschaft kommen, dann aber im Elfmeterschießen verlieren. Trotzdem haben wir eine Schlacht verloren und die Folgen für Millionen Menschen in Griechenland werden sehr hart sein. Es waren vor allem unsere Wähler, die uns dies nach unserer anfänglichen Euphorie bewusst gemacht haben. Sie hatten uns ihre Stimme gegeben, damit wir die Wahl gewinnen. Jetzt haben wir wieder eine Regierung, die den Menschen versprochen hat, das Memorandum neu zu verhandeln, aber am Ende doch wieder der Planung der Troika folgen wird.

In Deutschland wird immer offener und lauter über den Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone gesprochen, wenn es nicht den Forderungen der Troika nachkommt. Ist das nur ein Bluff oder eine echte Bedrohung?

Ich glaube nicht, dass es derzeit möglich ist, ein Land aus der Eurozone zu werfen. Dies hätte negative Konsequenzen für die gesamte Eurozone. Und natürlich wird versucht, Maßnahmen zu ergreifen, die Kosten in einem solchen Fall zu minimieren. Aber das ist bisher nicht wirklich gelungen. Wer mit so etwas droht, hat entweder keine Ahnung, was daraus folgt, oder will nur einschüchtern.

Die Taktik der Einschüchterung scheint aufzugehen. Griechenland stimmt wegen dieses Szenarios immer wieder neuen Sparmaßnahmen zu. An diesem Wochenende wird das nächste Kürzungspaket mit der Troika aus Internationalem Währungsfonds, EU und Europäischer Zentralbank ausgehandelt.

Die Austeritätspolitik wird die Krise nicht lösen. Bei Fortsetzung dieser Politik werden wir nicht nur sehen, wie ein Land die Eurozone verlässt, sondern wie die gesamte Eurozone zerstört wird. Auch Deutschland wird nicht ewig in der Lage sein, all die verschiedenen Banken in jedem Land zu finanzieren, und müsste dann die Eurozone verlassen.

Sie betonen immer wieder die europäische Dimension der Krise. Welche Bedeutung hat die Situation in Griechenland für Europa?

Griechenland ist das neoliberale Experimentierlabor Europas. Wir sind hier im Epizentrum der Krise. Und wir hoffen, dass die dynamische Entwicklung von SYRIZA auch Auswirkungen auf die europäische Linke haben wird, besonders in den südlichen Ländern, die mit den gleichen Krisenfolgen konfrontiert sind.

Was muss sich in Europa ändern, damit die Wirtschaft der südeuropäischen Staaten wieder auf die Beine kommt?

Die Defizite der südeuropäischen Länder sind nicht die Ursache der Krise, sondern nur ein Symptom. Das eigentliche Problem besteht in der Konstruktion der Eurozone. Wenn man keine Zentralbank hat, die einem Geld leiht, dann muss man zum Markt gehen. Die Zentralbank muss deshalb Geld direkt an die Staaten leihen, zum Beispiel über öffentliche Banken. Ich hoffe, wir haben das aus dem Crash von 1929 gelernt: Wirtschaftliche Krisen kann man nicht durch Austeritätspolitik bekämpfen, sondern nur, indem man mehr Geld zur Verfügung stellt. Wir brauchen so etwas wie einen Marshallplan für soziale Entwicklung. Das würde auch den Ländern im Norden helfen, denn unsere Defizite sind deren Überschüsse. Auch sie werden irgendwann von der Krise betroffen sein, wenn im Süden immer weniger produziert wird. Wenn man die Bezahlung der Menschen in Nord- und Südeuropa niedrig hält und immer mehr Austeritätspolitik betreibt, dann wird irgendwann das ganze System explodieren.

In welche Felder sollte der griechische Staat in den nächsten Jahren investieren, um die Wirtschaft wieder zu beleben?

Griechenland hat einige Besonderheiten auf Grund seiner Größe, seiner geografischen Lage und seiner vielen natürlichen Ressourcen. Wir sollten in die Landwirtschaft investieren und in den Tourismus, dabei aber seinen Charakter ändern. Und vielleicht auch in erneuerbare Energien. Denn wir haben Sonne, Wasser und Berge.

Mit der Ablehnung der Sparpolitik und dem gleichzeitigen Aufzeigen von Alternativen hat SYRIZA viele Wähler überzeugt. Nun ist das Bündnis dabei, zu einer Partei zu werden. Wie verläuft dieser Prozess?

Schwierige Debatten dazu hatten wir schon seit Jahren. Aber manchmal sorgt auch das Leben dafür, dass sich unlösbar erscheinende Probleme von selbst erledigen. Als Bündnis kam SYRIZA nie über 30 000 Mitglieder hinaus, jetzt haben uns aber über eine Million Menschen gewählt. Viele davon wollen nun auch Mitglied werden. Deshalb ist jetzt die Frage, wie wir diese Menschen in unsere Strukturen aufnehmen. Wollen sie einer einzelnen Organisation innerhalb eines breiteren Bündnisses beitreten oder einer großen Partei? Dabei darf die ideologische Autonomie unserer Bündnisorganisationen nicht verloren gehen. Ihre Ansichten könnten als Plattformen unterschiedlicher Ideen in der großen Partei weiter wirken.

Die gesellschaftliche Mobilisierung spielte eine wichtige Rolle. Es gab Generalstreiks, Besetzungen von Plätzen und Versammlungen im öffentlichen Raum. Werden diese Formen der Beteiligung weiterhin genutzt?

Durch die Bewegung, die die Plätze besetzte, konnten wir eine Menge lernen. Aus meiner Sicht herrschte im politischen System Griechenlands eine Krise der Repräsentation und diese Bewegung machte uns klar, das es darauf jetzt eine Reaktion gab. Auch wir mussten erst einmal Mal lernen, wie wir die Menschen mit ihren alltäglichen Problemen erreichen konnten. Als diese Bewegung dann durch die Unterdrückung des Staates zerstört wurde, herrschte fast schon Krieg. Es kamen viele Tonnen Chemikalien zum Einsatz. Diese Bewegung wurde nicht politisch besiegt, sondern militärisch.

Welche Rolle spielen die Ideen dieser Bewegung jetzt bei SYRIZA?

Die Ideen der Menschen eröffnen einen neuen Weg im sozialen und politischen Leben Griechenlands. SYRIZA ist jetzt zu einer neuen Hoffnung herangewachsen, nicht nur für sozialen Wandel und um die Troika und das Memorandum loszuwerden, sondern auch um das ganze politische System von der Wurzel her zu verändern.

Wie wollen Sie die Hoffnungen der Menschen erfüllen?

Wir versuchen die demokratischen Strukturen, die sich die Bewegung gegeben hat, auch bei uns zu integrieren. Dabei waren die letzten beiden Wahlkämpfe sehr entscheidend, weil wir im Rahmen unserer Kampagnen offene Versammlungen machten. Und die Menschen reagierten sofort. Ich erinnere mich noch an eine Versammlung, an der über 3000 Menschen teilgenommen haben. Entscheidend war, den Menschen das Mikrofon zu geben. Wir haben uns nicht vor sie hingestellt und ihnen etwas von oben herab erzählt, sondern mit ihnen auf Augenhöhe kommuniziert. Diese Strukturen sind sehr wichtig. Die Wünsche und Hoffnungen dieser Menschen zu erfüllen, ist nicht in ein paar Tagen zu schaffen. Wir haben immer noch keine ausreichenden Strukturen für die vielen Menschen, die uns gewählt haben. Wir müssen uns noch besser organisieren. Daran arbeiten wir nun. Denn wir wollen nicht die Menschen führen, sondern die Menschen sollen uns führen.

SYRIZA hat 71 Abgeordnete im Parlament. Wie organisieren Sie die Parlamentsarbeit in der jetzt viel größeren Fraktion?

Es besteht die Gefahr, dass wir uns zu sehr in eine Partei verwandeln, die sich nur auf ihre Abgeordneten im Parlament stützt. Das wollen wir nicht. Wir wollen unsere Basis in der Gesellschaft haben. Diese Zeit ist für uns sehr kritisch, denn wir müssen uns sowohl im Parlament organisieren, als auch die Probleme der Gesellschaft so gut verstehen, dass wir sie lösen können. Vielleicht müssen wir schon bald ganz andere Konsequenzen ziehen, wenn wir die Regierung stellen müssen. Wir müssen die Ideen von unten – aus der Gesellschaft – in die Regierung transportieren. Eine große Summe der Abgeordnetenbezüge sollen übrigens den Solidaritätsnetzwerken für diejenigen Menschen zur Verfügung gestellt werden, die am schlimmsten von der Krise betroffen sind.

Wie gehen Sie mit dem Aufstieg der Neonazis um?

Das ist etwas, das mich nicht überrascht hat, weil dieses Phänomen in Krisenzeiten häufig auftritt. Ich glaube nicht, dass wir wirklich so viele Faschisten und Neonazis in Griechenland haben. Hier soll eher das ganze politische System abgestraft werden. Trotzdem bin ich sehr besorgt. Einige versuchen gerne das Bild zu malen, hier würden zwei Extreme aufeinander prallen. Die Neonazis werden bestimmt versuchen, uns auf alle möglichen Weisen anzugreifen. Wir werden leider erst einmal damit leben müssen und geduldig sein.

Versuchen Sie mit SYRIZA immer noch, zu einer Einigung mit der Kommunistischen Partei KKE zu kommen?

Wenn ich an die letzten Wahlen denke, erinnere ich mich, dass wir allein in dieser Schlacht waren, schrecklich allein. Und das war auch der Grund, warum wir verloren haben. Es gab niemand für ein Bündnis, weder rechts noch links von uns. Deshalb konnten wir auch niemanden überzeugen, dass wir für die Bildung einer Regierung antraten. Jeder fragte uns: Mit wem wollt Ihr koalieren? Bei der Demokratischen Linken wurde uns schnell klar, dass sie sich der Memorandumspolitik anschließen will. Und die KKE hat uns von Anfang an angegriffen. Demokratische Linke und KKE haben eine historische Chance verspielt. Bei der Wahl 1982 in Griechenland, als erstmals die Sozialdemokraten gewannen, hatte die KKE sie unterstützt. Diesmal war Ihr Wahlslogan: Vertraut SYRIZA nicht.

Müssen die Linken nicht auch lernen, auf europäischer Ebene besser zusammenzuarbeiten?

Ich muss zugeben, dass die europäische Linke eine Menge Fehler gemacht und die Kontinuität der Bewegung von 2006, als das Europäische Sozialforum in Athen stattfand, verloren hat. Deshalb müssen wir den seit 2006 beschrittenen Weg korrigieren und den Enthusiasmus der Vorjahre wiederfinden. Stellen Sie sich doch bloß einmal vor, es gäbe am selben Tag in ganz Europa Massendemonstrationen. Dann könnten die politischen Führer unserer Länder ihre Entscheidungen nicht mehr weiter so einsam wie bisher ohne die Menschen treffen.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 4. August 2012


Außen und innen

Von Jörg Meyer **

Griechen raus aus dem Euro! Jetzt muss Härte gezeigt werden! So meldete sich der bayerische Finanzminister Markus Söder (CSU) am Wochenende aus New York knatternd zu Wort. An der Krise Griechenlands seien nur die Griechen schuld, sagte Söder. Was denkt der sich? Fernab von Rationalität und Argumenten hetzt er den deutschen Kleinbürger auf. Peinlich. Fakt ist doch, dass ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone große Gefahren birgt und überdies dann noch weniger klar ist, ob Griechenland das geliehene Geld wird zurückzahlen können. Aber noch viel wichtiger ist, dass die Art und Weise, wie Söder agitiert, eher dazu geeignet ist, Zwist und Zwietracht in der EU zu nähren, wo Solidarität und Gemeinsamkeit gefragt sind.

Und während Griechenland ein weiteres Mal hart an der Staatspleite entlang schrammt, beweisen die Behörden dort EU-kompatiblen Aktionismus und internieren Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylsuchende, die keine Papiere haben, illegalisiert leben. Der Druck von außen wird auf die Schwächsten im Inneren durchgereicht. Die Orte, an denen sie eingesperrt werden, heißen übersetzt »Geschlossene Gastfreundschaftszentren«. Orwell grüßt herzlich. Markus Söder sollte auf seiner nächsten Reise so einen Ort besuchen. Vielleicht geht ihm dann ein Licht auf, in welchem Kontext seine Äußerungen zu sehen sind. Die Krise betrifft nicht allein die südeuropäischen Staaten, sondern ist ein internationales Problem, das nicht mit nationalem Geknarze und harter Hand gelöst werden kann.

** Aus: neues deutschland, Montag, 6. August 2012 (Kommentar)


Zurück zur Griechenland-Seite

Zur EU-Europa-Seite

Zurück zur Homepage